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Eine interdisziplinäre Analyse der Willensfreiheit

 

B.Contestabile   Erste Version 2007   Letzte Version 2023

 

 

 

 

Inhalt

 

Zusammenfassung

 

1.  Einleitung

2.  Definitionen

     2.1  Willensfreiheit aus rechtlicher Sicht

     2.2  Willensfreiheit aus physikalischer Sicht

3.  Libertarismus

     3.1  Definition

     3.2  Der unbedingte Wille

     3.3  Dualismus

     3.4  Kritik aus Sicht des Naturalismus

4.  Harter Determinismus

     4.1  Definition

     4.2  Vorgeschichte

     4.3  Moderner Determinismus

     4.4  Argumente gegen die Willensfreiheit

5.  Kompatibilismus

     5.1  Definition

     5.2  Die Evolution der Willensfreiheit

     5.3  Reichweite der Willensfreiheit

     5.4  Argumente gegen den harten Determinismus

6.  Skeptizismus

     6.1  Soziologie

     6.2  Soziobiologie

     6.3  Verhaltens-Psychologie

     6.4  Psychoanalyse

     6.5  Hirnforschung

7.  Verantwortung

     7.1  Definition

     7.2  Semantik

8.  Schlussfolgerungen

 

Zitierte Literatur

Anhang: Konservative und Dissipative Strukturen

 

 

 

 

Zusammenfassung

 

 

Ausgangslage

Die meisten Kulturpessimisten gehen davon aus, dass der Mensch die kulturelle Evolution nicht massgeblich beeinflussen kann. Sie berufen sich dabei auf die Komplexität der biologischen und kulturellen Systeme und auf den Mangel an bewussten Entscheidungen.

 

 

Problemstellung

- Was bedeutet Willensfreiheit?

- Wie stark ist die Willensfreiheit durch äussere und innere Bedingungen eingeschränkt?

- Welche Verantwortung trägt der Mensch für seine Handlungen?

 

 

Willensfreiheit

Libertarier sprechen nur dann von Willensfreiheit, wenn der Mensch Letzt-Urheber seiner Entscheidungen ist, d.h. die Kausalität der physikalischen Hirnprozesse durchbrechen kann. Sie glauben, dass es geistige (nicht-physikalische) Kräfte gibt, welche diesen Durchbruch leisten können. Die Mehrheit der heutigen Philosophen lehnt diese Position ab. Sie vertritt die Meinung, dass die menschlichen Entscheidungen vollständig von physikalischen Gesetzen kontrolliert werden. Es stellt sich dann die Frage: Kann ein von physikalischen Gesetzen bestimmter Wille frei sein? Die Meinungen gehen auseinander:

- Harte Deterministen, sehen keine Grundlage für die Existenz einer Willensfreiheit

- Kompatibilisten (auch weiche Deterministen genannt) postulieren, dass die Willensfreiheit mit den bekannten physikalischen Gesetzen kompatibel ist. Die kompatibilistische Willensfreiheit ist allerdings eingeschränkt durch Faktoren der Aussenwelt und Innenwelt:

 

 

Einschränkungen durch die Aussenwelt 

In diesem Aufsatz geht es nicht um die bewussten und bekannten Fälle von politischer Freiheitsberaubung. Soweit soziale Strukturen reflektiert werden können, sind sie auch offen für eine gesellschaftliche Diskussion und für Widerstand. Es geht hier darum, dass die Willensfreiheit bereits durch die Verdrängung von Wünschen und Möglichkeiten eingeschränkt ist. Es gibt eine gesellschaftliche Produktion von Unbewusstem, welche der Kontrolle von Trieben und der Festigung von Machtverhältnissen dient.

 

Wenn Strukturen der Triebbewältigung dienen, dann haben sie oft eine Doppelfunktion: sie schränken die Freiheit in einem Bereich ein, aber vergrössern sie in einem anderen Bereich. Sie gleichen deshalb eher einem Kloster als einem Gefängnis. Das Kloster schränkt die Freiheit ein, aber es bietet auch Schutz vor den Gefahren der Aussenwelt und erlaubt das ungestörte Meditieren. So wie der Pianist künstlerische Freiheit gewinnt, indem er die Tastentechnik im Unbewussten verankert, so gewinnt eine Kultur Freiheit, indem sie gewisse Aggressions-Hemmungen im Unterbewussten verankert.

 

 

Einschränkungen durch die Innenwelt

Die langfristig etablierten, sich nur langsam im Laufe des Lebens ändernden Einflusszonen der psychischen Instanzen definieren das Mass der inneren Freiheit. Diese Einflusszonen können als grundlegende Einschränkung der individuellen Freiheit betrachtet werden aber auch als eine spezifische Anpassung an die Umwelt, in welcher sich Individualität und damit ein Stück Freiheit ausdrückt. Am meisten zum Freiheitsskeptizismus beigetragen haben diejenigen Hirnforscher welche behaupten, dass Bewusstsein nur ein Epiphänomen ist.

 

 

Verantwortung

Man kann nur für etwas verantwortlich gemacht werden, worüber man frei entscheiden kann:

- Die harten Deterministen schliessen Willensfreiheit und Verantwortung aus. Die Mehrheit der heutigen Philosophen lehnt diese Position ab.

- Libertarier und Kompatibilisten bejahen sowohl die Willensfreiheit als auch die Verantwortung. Für sie besteht das Hauptproblem darin, das moralische Gewicht der unbewussten Motive richtig einzuschätzen.

 

 

 

 

 

1. Einleitung

 

 

Ausgangslage

Die meisten Kulturpessimisten gehen davon aus, dass der Mensch die kulturelle Evolution nicht massgeblich beeinflussen kann. Sie berufen sich dabei auf die Komplexität der biologischen und kulturellen Systeme und auf den Mangel an bewussten Entscheidungen.

 

 

Problemstellung

1.     Was bedeutet Willensfreiheit?

2.     Wie stark ist die Willensfreiheit durch äussere und innere Bedingungen eingeschränkt?

3.     Welche Verantwortung trägt der Mensch für seine Handlungen?

 

 

 

2. Definitionen

 

Für den Begriff Willensfreiheit gibt es derzeit keine allgemein anerkannte, hinreichende Definition [Philoclopedia].

 

 

2.1  Willensfreiheit aus rechtlicher Sicht

 

 

Verantwortung

Im Rechtswesen wird der Begriff Verantwortung als Pflicht einer handelnden Person oder Personengruppe gegenüber einer anderen Person oder Personengruppe definiert. Die Pflicht entsteht aufgrund eines normativen Anspruchs (Verantwortung, Wikipedia).

Verantwortung setzt Willensfreiheit voraus. Man kann nur für etwas verantwortlich gemacht werden, worüber man frei entscheiden kann.

 

 

Willensfreiheit

Der Begriff Wille bedeutet das Umsetzen von Vorstellungen in die Realität durch Handlungen (Wille, Wikipedia)

 

1)    Bedingte Willensfreiheit

Nach diesem Konzept ist ein Wille frei, wenn eine Person

a)    ihren Willen nach ihren persönlichen Präferenzen bildet

b)    und dann ihren Willen in die Tat umsetzen kann (Handlungsfreiheit).

Der Begriff Präferenz steht für Motiv, Interesse, Wunsch, Bindung, etc.

 

2)    Unbedingte Willensfreiheit

Der unbedingte Wille kann sich in einer „kausalen Lücke“ allen Präferenzen widersetzen (muss aber nicht). Für mehr Informationen zu dieser Definition siehe Kap.3.2.

(Freier Wille, Wikipedia)

 

Welche der konkurrierenden Präferenzen sich als Wille herausbildet, hängt von der Persönlichkeit und von Umwelteinflüssen ab [Dennett 2017, 222-223]. Die Willensbildung ist umso freier, je weniger sie auf äusseren oder inneren Zwängen beruht [Stuckenberg, 3] [Beckermann 2005].

-      Äusserer Zwang: Die Willensbildung kann durch soziale, ökonomische oder kriminelle Druckmittel beeinflusst werden.

Eine Person ist in ihrem Wollen frei, wenn sie autonom bestimmen kann, welche Präferenzen handlungswirksam werden sollen [Beckermann 2005].

-      Innerer Zwang bzw. innere Unfreiheit entsteht dadurch, dass der Einfluss des Denkens auf das Wollen behindert ist [Bieri, 193].

Wir können mit unseren Gedanken Einfluss nehmen auf unseren Willen. Das Ausmass, indem uns das gelingt, ist das Ausmass, in dem unser Wille Freiheit besitzt [Bieri, 54, 226].

 

Von Willensfreiheit im moralischen Sinne (Schuldfähigkeit) spricht man erst, wenn die eigenen Präferenzen reflektiert werden können und zu Handlungsoptionen werden.

Dem deutschen Strafgesetzbuch zufolge sind für Schuldfähigkeit zwei Kriterien entscheidend:

1.     Einsichtsfähigkeit: die Fähigkeit, das Unrecht des eigenen Handelns einsehen zu können

2.     Steuerungsfähigkeit: die Fähigkeit, dieser Einsicht gemäß handeln zu können.

[Beckermann 2006, 13].

 

Nachfolgend ein paar konkrete Beispiele von inneren Zwängen mit denen der Begriff Willensfreiheit negativ abgegrenzt werden kann. Es sind Beispiele, welche auf einen Zusammenhang zwischen innerer Unfreiheit und dem Erleben der Zeit hinweisen:

 

 

Getriebensein

Wir sind getrieben durch spontan auftauchende innere Wünsche und durch Einflüsse der Umgebung, wenn wir nicht mehr über unsere Wahlmöglichkeiten nachdenken [Bieri, 84-89]

-      Der Getriebene kann die Gegenwart nicht erleben als etwas wofür er sich (frei) entschieden hat.

-      Er beschäftigt sich nicht mit seiner Vergangenheit und kann deshalb die Gegenwart nicht im Lichte seiner Lebensgeschichte sehen.

-      Der Getriebene kann auch nicht in eine Zukunft hineingehen, die sich mit einer gewissen Logik aus der Vergangenheit entwickelt.

[Bieri, 127-132]

 

 

Unterworfensein

Von Unterworfensein spricht man, wenn andere an unserer Willensbildung beteiligt sind, ohne dass wir darauf Einfluss nehmen können, z.B. im Falle der Hypnose oder der Hörigkeit. Im Unterschied zu einem permanent Getriebenen ist hier die Fähigkeit zur Willenskontrolle nur vorübergehend ausgeschaltet [Bieri, 91-92]. Die Zeit, während der man einem fremden Willen folgt, ist in einem gewissen Sinne nicht die eigene Zeit, man ist nur Gast in der Zeit eines anderen. Dabei lassen sich folgende Stufen der Unfreiheit unterscheiden

1)    Man phantasiert ein eigenes Leben, kann es aber nicht durchsetzen

2)    Man kann keine Alternative mehr phantasieren, gehorcht einem anderen, aber ist gefühlsmässig immer noch abgegrenzt.

3)    Man folgt auch gefühlsmässig dem Leben des anderen, der eigene Wille ist tot.

[Bieri, 132-139]

 

 

 

 

 

Salvador Dali  Die Beständigkeit der Erinnerung

 

 

 

Gehirnwäsche

Unser Denken kann von innen her vergiftet werden, z.B. durch Gehirnwäsche in einer Sekte. Die Gedankenwelt ist zugeschüttet mit geschickt gewählten Metaphern und Assoziationen, an die sich starke Emotionen anlagern. In einem gewissen Masse kann auch die Familie, eine politische Partei oder eine Stammtischrunde die Rolle einer Sekte übernehmen, wenn man zum Mitläufer wird und keine kritische Distanz entwickelt [Bieri, 93-95]

Da er immer dasselbe denkt und sagt muss der gedankliche Mitläufer sich langweilen. Was die Zukunft belangt, so wird er später denken, was er immer gedacht hat. Allem, was kommt, wird er die ewig gleichen Überzeugungen entgegenhalten. Es ist nichts weniger als die offene Zukunft, welche der Mitläufer durch seine Borniertheit verspielt und seine besondere Unfreiheit besteht darin, dass er diesen Verlust gar nicht bemerkt. Die Vergangenheit kann ihm nicht als eine Zeit erscheinen, in der er sich entwickelt hat, sondern nur als eine Spanne, in der er fest zu seinen Überzeugungen gestanden hat. „Das habe ich schon immer gesagt“ ist eine seiner häufigsten Wendungen. Der Ursprung seiner Gedanken liegt im Dunkel des kindlichen Nachplapperns [Bieri, 139-141].

 

 

Sucht

Auch Menschen, die selbständig denken und sich kritisch von aussen betrachten, können einer Sucht verfallen. Die bessere Einsicht ist vorhanden, aber man kann ihr nicht folgen. Beispiel: Eine Person, welche die Schädlichkeit des Rauchens erkannt hat, vergleicht den mittelfristigen Genuss am Tabak mit dem langfristigen Risiko von Lungenkrebs. Nach dem Abwägen der Chancen und Risiken entschliesst sich die Person mit dem Rauchen aufzuhören. Sie hat offenbar die Fähigkeit zu bestimmen, welcher der beiden Wünsche (Tabakgenuss oder Gesundheit) handlungswirksam werden soll. Wenn die gleiche Person die Kraft nicht aufbringt das als richtig Erkannte in die Tat umzusetzen oder das Rauchen nur temporär einstellen kann, dann ist sie in ihrer Willensfreiheit eingeschränkt.

Eine Sucht wird nicht zwangsläufig verurteilt, sie kann auch – wie im Falle der Arbeitssucht – gesellschaftlich prämiert werden. Süchtige bezeichnet man oft als willensschwach, aber die Schwäche betrifft nicht den vorhandenen (überstarken) schädlichen Willen, sondern die Fähigkeit, ihn durch einen neuen, als besser erkannten Willen zu ersetzen. Der zwanghafte Wille kann nicht durch Erfahrung belehrt werden. Die einzige Chance besteht darin, dass einem dieser Wille eines Tages als fremd vorkommt [Bieri, 96-101].

Weil einem der zwanghafte Wille schadet erscheint er als etwas Bedrohliches oder Fremdes und man wartet man ständig, dass er verschwindet. Durch dieses Warten auf eine bessere Zukunft entgleitet dem Süchtigen die Gegenwart. Der Leistungs-Süchtige etwa will nur noch die eben angepackte Arbeit zu Ende bringen und sich dann etwas Vergnügen gönnen. Doch natürlich taucht sogleich eine neue Herausforderung auf, sodass das Vergnügen weiter in die Zukunft verschoben werden muss. Die Zeit läuft am Süchtigen vorbei, ohne dass er sich gestaltend daran beteiligen kann. In der Erinnerung besteht die Vergangenheit nicht aus gelebter Gegenwart sondern aus vergeblichem Warten. Es ist eine Zeit, die der Süchtige ertragen, aber nicht gelebt hat. Es war ein vergeblicher Kampf mit sich selbst [Bieri, 141-146]. In der Sucht verliert der Mensch seine Zeitfreiheit [Wittmann].

 

 

Unbeherrschtheit

Auch der Unbeherrschte ist nicht Herr seines Willens. Was dem Unbeherrschten fehlt ist nicht ein Wille, sondern die Kontrolle über ihn.

-      Der Unbeherrschte unterscheidet sich vom Zwanghaften dadurch, dass er alles Überlegen auslöscht und wegspült. Eine zwanghafte Handlung kann man dagegen bei klarem Verstand ausführen.

-      Beim Unbeherrschten muss nicht der Affekt falsch sein, sondern nur die Handlung, welche dem Affekt folgt. Beim Zwanghaften ist schon der Affekt inadäquat [Bieri, 107-109].

 

 

 

2.2  Willensfreiheit aus physikalischer Sicht

 

Um die Willensfreiheit aus physikalischer Sicht zu definieren, muss man zuerst den Umfang und die Geltung der physikalischen Gesetze klären.

 

 

Umfang der Gesetze

Als grundlegende Disziplinen gelten heute [Vollmer 2000, 193] [Vollmer 2003]: 

1)    Die Thermodynamik (seit 1850) mit den zentralen Begriffen Energie, Entropie und Temperatur, zuständig nicht nur für Wärmeerscheinungen, sondern für alle physikalischen Prozesse

a)     Die statistische Mechanik der Atome und Moleküle liefert eine mikroskopische Erklärung der Entropiezunahme [Boltzmann]. Hier bewegt man sich innerhalb der Grenzen der klassischen Mechanik und der Wahrscheinlichkeitstheorie.

b)    Die Thermodynamik irreversibler Prozesse, insbesondere die Synergetik und die mikroskopische Erklärung der Entropieabnahme, verwendet Erkenntnisse der Systemtheorie.

 

2)    Die allgemeine Relativitätstheorie (seit 1915), zuständig für Raum, Zeit und Gravitation:

a)     Sie erweitert die spezielle Relativitätstheorie (1905) und geht für hinreichend kleine Gebiete der Raumzeit in diese über.

b)    Sie enthält die klassische Mechanik (18-19.Jh.) als Grenzfall für hinreichend kleine Massendichten und Geschwindigkeiten.

 

3)    Die Kosmologie (seit 1917), zuständig für die Struktur und Entwicklung der Welt als Ganzes, als erfahrungswissenschaftliche Disziplin seit Newton möglich, seit Einstein erfolgreich

4)    Die Quantentheorie (seit 1925), unentbehrlich für Mikrosysteme, jedoch mit Geltungsanspruch für alle realen Systeme.

5)    Theorie der Elementarteilchen (seit 1962)

 

 

Geltung der Gesetze

Die Vorstellung einer gesetzmässig geordneten Natur ist historisch und kulturell nicht allgemein verbreitet. „Die Natur“ als etwas Allumfassendes anzusehen, stellt ein Spezifikum der abendländischen philosophischen Tradition dar [Hampe 2000, 241-242].

Kandidaten für Naturgesetze lassen sich zwar relativ leicht aufzählen, aber was Naturgesetze sind und warum sie gelten ist nur schwer zu erklären [Vollmer 2000, 205] [Mittelstaedt]. Die physikalischen Theorien stehen auf einer unsicheren Grundlage [Rothman]:

-      Wir können niemals von den bisherigen Beobachtungen auf die zukünftigen schliessen (Induktionsproblem). Da Naturgesetze induktiv nicht verifizierbar sind (allenfalls falsifizierbar), kann den Gesetzen unserer empirischen Wissenschaft lediglich der Status von Hypothesen zugestanden werden.

-      Die Physik hat zwar viele Probleme gelöst, aber noch längst nicht alle:

Einige der bedeutendsten ungelösten Probleme der Physik sind theoretischer Natur, d. h. dass die bestehenden Theorien nicht in der Lage sind, ein bestimmtes, beobachtetes Phänomen bzw. das Ergebnis eines Experiments zu erklären. Die anderen sind experimenteller Natur, d. h. dass es schwierig ist, ein Experiment zu erstellen, um eine bestimmte Theorie zu überprüfen oder ein bestimmtes Phänomen mit größerer Genauigkeit zu erforschen. Siehe Liste ungelöster Probleme in der Physik.

-      Ungeklärt ist auch die Frage, wie weit die Beschreibungen der Natur durch unsere Gehirnstrukturen beeinflusst werden. Spätestens für die Quantentheorie ist die These von einer Beobachter-unabhängigen Realität unhaltbar [Lyre, 442]

 

Es könnte sein, dass die physikalische Kosmologie als Evolutionstheorie des Kosmos schliesslich auf Prinzipien stösst, die es erlauben, die Entwicklung physikalischer Gesetzmässigkeiten zu erklären, so wie es der Darwinschen Evolutionstheorie gelungen ist, die natürlichen Arten historisch zu erklären. Die Standardsituation der Begründung von Gesetzen ist ihre Rückführung auf allgemeinere Gesetze, wobei das alte Gesetz sich innerhalb des neuen, allgemeineren bis jetzt immer als kontingent erwies. Dieser Prozess ist nicht abgeschlossen [Hampe 2000, 250-251]. Nachfolgend eine Illustration aus Weltformel, Wikipedia:

 

 

 

 

Quantenfeldtheorien sind nicht kompatibel mit der allgemeinen Relativitätstheorie (Quantengeometrie, Wikipedia). Die bekanntesten Kandidaten für eine Verbindung der beiden Theorien (genannt Quantengravitation) sind die Stringtheorie und die Loop-Quantengravitation. Es ist aber auch denkbar, dass es nie eine Weltformel geben wird [Lim].

 

Die Grundgesetze sind im Allgemeinen sehr abstrakt, und es ist nicht einfach sie zu verstehen. Deshalb werden in wissenschaftstheoretischen Diskussionen eher klassische Gesetze als Beispiele herangezogen [Vollmer 2000, 193].  Eines dieser klassischen Gesetze betrifft die Gravitation. Es eignet sich, um den Unterschied zwischen Naturnotwendigkeit und Naturgesetz zu illustrieren:

 

 

Naturnotwendigkeit und Naturgesetz

Der Begriff Naturgesetz ist mit einer Folge von unterschiedlichen Weltbildern verknüpft, die sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelten [Hampe 2007] [Hoyningen-Huene]. Zu jedem dieser Weltbilder gehört ein Symbolsystem. Symbolsysteme sind historisch gewachsene, kulturelle Produkte. Das Fallen eines Gegenstandes wurde z.B. im Laufe der Wissenschaftsgeschichte von verschiedenen Wissenschaftlern durch je eigene Symbolsysteme beschrieben. Die wichtigsten Autoren einer solchen Beschreibung sind (in historischer Reihenfolge):

1.     Aristoteles

2.     Kepler

3.     Newton

4.     Einstein

 

Die historische Sicht macht deutlich, dass man zwischen Naturnotwendigkeiten (laws of nature) und ihren Beschreibungen, den Naturgesetzen (laws of science) unterscheiden muss [GAD, Hampe]:

1.     Ein Naturgesetz wird in einem ganz bestimmten Symbolsystem formuliert, welches frei gewählt werden kann.

2.     Eine Naturnotwendigkeit ist demgegenüber fest vorgegeben

Einsteins Beschreibung der Gravitation erlaubt z.B. genauere Voraussagen und eröffnet damit neue Handlungsoptionen, obwohl sich an den Naturnotwendigkeiten nichts geändert hat.

 

Die Art und Weise, wie die Natur beschrieben wird hat einen grossen Einfluss auf die Existenz der Willensfreiheit:

-      Die ungelösten Probleme und die unsichere Grundlage der Physik werden als Argumente für eine immaterielle Basis der Willensfreiheit verwendet (Kap.3)

-      Das mechanistische Weltbild von Newton kann mit einem Uhrwerk verglichen werden, welches nach den Regeln eines (von Gott verordneten) ewigen Gesetzes abläuft. Der Mensch ist diesem Gesetz unterworfen und jede seiner Handlungen kann vorausberechnet werden. Willensfreiheit ist aus dieser Sicht eine Täuschung (Kap.4.2)

-      Auch die spezielle Relativitätstheorie und die quantenmechanische Verschränkung (Entanglement) werden als Argumente gegen die Willensfreiheit verwendet (Kap.4.3).

-      Die Thermodynamik irreversibler Prozesse wird als Argument für die Willensfreiheit verwendet. Gemäss dem Weltbild der Synergetik und Evolution entstehen und vergehen Gesetze durch Selbstorganisation. Wenn der Mensch nicht Gesetzen unterworfen ist, sondern selbst Gesetze schafft, dann ist er frei (Kap.5).

 

 

Letzt-Urheberschaft

Eine Person kann nur dann Letzt-Urheber des Ereignisses „E“ sein, wenn sie auch die Ereignisse (oder zumindest einen entscheidenden Teil der Ereignisse) kontrollieren kann, die für das Zustandekommen von „E“ verantwortlich sind [Beckermann 2005].

 

Physikalische Gesetze können wir nicht kontrollieren. Kann ein von physikalischen Gesetzen bestimmter Wille frei sein?

 

Nach dem heutigen Stand des Wissens ist die Natur nicht deterministisch. Im Zusammenhang mit der Willensfreiheit ist aber die Natur der Hirnprozesse entscheidend. Die meisten Physiker vertreten die Ansicht, dass der echte Zufall (der physikalische Indeterminismus) nicht auf die Ebene der Hirnprozesse durchschlägt, weil die quantenmechanische Unbestimmtheit bei komplexen Systemen wie dem menschlichen Gehirn verschwindet (siehe Dekohärenz). Die Forschung arbeitet entsprechend mit der Hypothese, dass die Hirnprozesse deterministisch ablaufen. Die Frage lautet deshalb genauer:

 

Kann ein von deterministischen Hirnprozessen bestimmter Wille frei sein?

 

Die Antworten auf diese Frage sind kontrovers:

 

1.     Unter Inkompatibilismus versteht man die These, dass Determinismus und Willensfreiheit unvereinbar sind. Wer diese These unterstützt, muss entweder den Determinismus oder die Willensfreiheit fallen lassen. Für beide Varianten gibt es Vertreter:

a.    Libertarier lassen den Determinismus fallen. Sie nehmen an, dass die Letzt-Urheberschaft ausserhalb der physikalischen Hirnprozesse liegt (Kap.3).

b.    Harte Deterministen lassen die Willensfreiheit fallen. Sie betonen, dass die Menschen die Kausalität der physikalischen Hirnprozesse nicht durchbrechen können (Kap.4).

 

2.       Unter Kompatibilismus (weicher Determinismus) versteht man die These, dass Determinismus und Willensfreiheit vereinbar sind (Kap.5).

 

 

 

3. Libertarismus (engl. Libertarianism)

 

 

3.1  Definition

 

Libertarismus bezeichnet in der Philosophie des Geistes eine Position zum freien Willen, die diesen bejaht und den Determinismus ablehnt, den sie als inkompatibel zum freien Willen ansieht. Kernpunkte libertarischer Ansätze sind die Annahme von Handlungsalternativen bei gegebenen Umständen („Anderskönnen“) und die Idee der Letztverantwortlichkeit, d.h., dass es „an uns liegt“, wie wir uns in einer gegebenen Situation entscheiden (Libertarismus, Wikipedia).

 

Das traditionelle Verständnis eines sich selbst bestimmenden Ichs, das weitgehend auch mit dem Alltagsverständnis und der üblichen Sicht im Strafrecht übereinstimmt, wird als Libertarismus bezeichnet. Im Bereich der Philosophie gilt diese Auffassung als Minderheitsposition (Verantwortung, Wikipedia).

 

Libertarier gehen davon aus, dass die Ereignisse im Gehirn, die zur bewussten Ausführung von Handlungen führen, keine vollständig physikalische Erklärung haben.

Einige Vertreter dieser Anschauung bejahen einen harten Determinismus in der physikalischen Welt, postulieren jedoch, dass es für "geistige" Ereignisse keine Begrenzungen gibt (Kompatibilismus und Inkompatibilismus, Wikipedia).

 

-      Historisch bedeutsame Vertreter des Libertarismus waren René Descartes (1596-1650), George Berkeley (1685-1753), Thomas Reid (1710-1796) und Immanuel Kant (1724-1804) (Libertarianism, Wikipedia).

-      Zeitgenössische Vertreter des Libertarismus sind Roderick Chisholm (1916-1999), Robert Kane (1938-), Peter van Inwagen (1942-) und Geert Keil (1963-) (Verantwortung, Wikipedia)

 

 

 

3.2  Der unbedingte Wille

 

Letzt-Urheberschaft (und damit Letzt-Verantwortung) ist nur möglich, wenn der Wille ein unbewegter Beweger ist. Nur ein unbedingter (unabhängiger) Wille ist ein freier Wille [Bieri, 199].

 

Der freie Wille bildet sich unter dem Einfluss von Präferenzen, d.h. der Wille wird von Präferenzen „bewegt“ [Bieri, 165-166, 188]. Kann man trotzdem von Letzt-Verantwortung sprechen? Die Mehrheit der Philosophen ist der Meinung, dass die Existenz von Präferenzen die Freiheit nicht einschränkt. Im Gegenteil: Ohne Präferenzen liesse sich die Idee der Willensfreiheit gar nicht beschreiben [Bieri, 251-253] [Dennett 2017, 222-223].

 

Libertarier akzeptieren diese Überlegung nur teilweise:

-      Der freie Wille ist zwar geneigt den Präferenzen zu folgen

-      er kann sich aber auch jeder physikalischen Kausalität widersetzen.

Darüber zu bestimmen, ob es zu einer Bindung an Präferenzen kommt und zu welcher, das ist die Ausübung der wahren Freiheit. Ein Letzt-Urheber muss in der Lage sein, den Entscheidungsprozess (das bewusste Abwägen von Präferenzen) in einem beliebigen Zeitpunkt abzubrechen und willkürlich zu handeln [Bieri, 189-190]. Dies wird als instantane Akteurskausalität bezeichnet. Die Entscheidung wird als spontane Aktion ohne zeitliche Ausdehnung und ohne physikalische Kausalität, d.h. als „kausale Lücke“ wahrgenommen [Bieri, 222-226].

 

 

 

3.3  Dualismus

 

 

Leib-Seele Dualismus

Leib-Seele Dualisten postulieren, dass die Wahrnehmung der kausalen Lücke keine Täuschung ist, sondern dass eine mentale Sphäre ausserhalb der physikalischen Gesetze existiert, welche auf die Tätigkeit des Gehirns einwirkt.

 

Der Leib-Seele-Dualismus ist eine logische Konsequenz, wenn man

(1)  einerseits sagt: "Die Tätigkeit des Gehirns unterliegt physikalischen Gesetzen und damit der Kausalität" und

(2)  andererseits sagt "ein Mensch kann ohne kausale Abhängigkeit entscheiden“ [Searle].

Physikalische Gesetze sind Kausalsätze, d.h. sie haben die Form einer Wenn-dann-Aussage [Vollmer 2000, 211].

 

Der große Vorteil des Leib-Seele Dualismus besteht darin, dass er mit der Alltagserfahrung der Menschen übereinstimmt (Philosophie des Geistes, Wikipedia)

-      Vorläufer des Leib-Seele Dualismus findet man in der Samkhya-Lehre (Kapila, 7./6.Jh.v.Chr.) und bei Platon (ca. 428–348 v. Chr.).

-      René Descartes (1596-1650) ist der bekannteste Vertreter des Leib-Seele-Dualismus und wird oft als Vater dieser Theorie bezeichnet. Eine andere Ausprägung findet man bei Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716).

-      Moderne Vertreter des Leib-Seele-Dualismus sind Karl Popper (1902-1994) und John Eccles (1903-1997).

 

Seine Vorstellung von der Interaktion zwischen Gehirn und nicht-physikalischem Bewusstsein stellte John Eccles in den 1970er Jahren zusammen mit dem Philosophen Karl Popper in dem Buch The Self and its Brain vor (dt. Das Ich und sein Gehirn). Er griff dabei auf Poppers Drei-Welten-Lehre zurück und behauptete, dass es bestimmte Regionen in der linken Gehirnhälfte gebe, die eine Interaktion der materiellen „Welt 1“ mit der mentalen „Welt 2“ ermöglichten (…). Eccles postulierte, dass kleinste Prozesse auf der Ebene der Quantenphysik hinreichend seien, um die Ausschüttung von Neurotransmittern zu beeinflussen und schloss, dass die Wirkung eines energie- und masselosen Geistes auf das Gehirn somit durch eine Beeinflussung der quantenmechanischen Wahrscheinlichkeitsfelder erklärbar werde (John Carew Eccles, Wikipedia).

 

Der wichtigste Einwand gegen eine Verbindung der Quantenmechanik mit der Willensfreiheit ist die Zufälligkeit der quantenmechanischen Prozesse. Eccles entgeht diesem Einwand durch die These, dass eine nicht-physikalische Kraft so auf das Gehirn wirkt, dass diese Prozesse nicht mehr zufällig stattfinden [Esfeld, 179]. Er postuliert, dass Intentionen nicht identisch sind mit Zuständen oder Prozessen im Gehirn und dass sie relevant sind für gewisse physikalische Vorgänge [Esfeld, 177].

 

 

Realität und Idealisierung

Ein Gehirn ist von den Molekülen bis zu den neuronalen Netzen mit chaotischer Dynamik konfrontiert [Berry, 62]. Bei der Erforschung solcher Prozesse muss man oft mit Wahrscheinlichkeiten und Idealisierungen arbeiten [Haken, 212]. Idealisierungen erkennt man u.a. an den sog. Singularitäten:

Eine Singularität bezeichnet in der Mathematik einen Punkt, an dem ein mathematisches Objekt nicht definiert ist oder an dem eine sonst zutreffende Eigenschaft nicht vorhanden ist (Singularität).

Aus dieser Definition folgt, dass die Theorien der Denkprozesse mindestens solange unvollständig sind, als Singularitäten existieren. Singularitäten führen z.B. zum Phänomen der Bifurkation:

Nichtlineare Systeme, deren Verhalten von einem Parameter abhängt, können bei einer Änderung des Parameters ihr Verhalten plötzlich ändern. Zum Beispiel kann ein System, das zuvor einem Grenzwert zustrebte, nun zwischen zwei Werten hin und her springen, also zwei Häufungspunkte aufweisen. Dies nennt man eine Bifurkation (Bifurkation, Wikipedia).

Mein ehemaliger Lehrer in Thermodynamik, Jakob Ackeret erwähnte in einer Vorlesung, dass die Lösungen der Navier-Stokes-Gleichungen ein Millenium-Problem sind und seufzte dann: „Nichtlineare Differentialgleichungen sind das Ende der Wissenschaft“. Das war natürlich übertrieben, aber beim menschlichen Gehirn scheint die Wissenschaft tatsächlich an ihre Grenzen zu stossen. Damit kommen wir zum Argument des unvollständigen Wissens [Metzinger 1996]:

 

 

Das Argument des unvollständigen Wissens

Die physikalischen Theorien stehen auf einer unsicheren Grundlage (siehe Kap.2.2, Geltung der Gesetze). Es ist offensichtlich, dass sie unvollständig sind und nicht alles erklären können.

David Chalmers hat 1995 den Ausdruck The hard problem of consciousness geprägt. Darunter versteht er die Frage, warum es überhaupt Erlebnisgehalte – oder Qualia – gibt. Mit Hilfe von bildgebenden Verfahren können wir sogar herausfinden, welche Prozesse im Gehirn ablaufen, wenn wir Schmerzen im Finger erleben. Nur, so Chalmers, wir haben dennoch nicht die geringste Ahnung, warum es dabei weh tut! Warum passieren all diese Prozesse nicht, ohne dass dabei auch nur ein Funken Bewusstsein entsteht? Dies ist das harte Problem des Bewusstseins und auch das klassische Qualiaproblem, wie es von Thomas Nagel, Frank Cameron Jackson und Joseph Levine formuliert wurde (David Chalmers, Wikipedia)

Da die Subjektivität, der phänomenale Gehalt des Bewusstseins, also immer mehr Informationen enthält als eine rein physikalische Beschreibung des Gehirns enthalten könnte, kann diese physikalische Beschreibung allein die Existenz und Beschaffenheit des Bewusstseins nicht erklären [Kügler]. Der Physikalismus ist ein Rückgriff auf die alten Behavioristen, die vorgaben, dass subjektive, mentale Phänomene – weil sie schwieriger zu beobachten und zu messen sind als Planeten und Protonen – nicht existieren [Horgan].

 

Auch das Trilemma von Bieri geht davon aus, dass bei mentalen Prozessen nicht-physikalische Phänomene im Spiel sind [Falkenburg 2012]. Ca. 10% der Hirnforscher glauben, dass Qualia und/oder Selbstreflexion zu dieser nicht-physikalischen Sphäre gehören [GAD, Vollenweider]. Hier eine Kurzbeschreibung des Qualia-Problems:

-      Die Stäbchen und Zapfen in der Netzhaut des Auges senden elektrische Signale an das Gehirn, welche die Intensität und die Wellenlänge des Lichts, das auf sie trifft, wiedergeben. Das Gehirn interpretiert diese Signale dann als Helligkeit, Farbe und Form.

-      In ähnlicher Weise senden die Haarzellen im Ohr elektrische Signale an das Gehirn, die die Frequenz und die Amplitude des Schalls, der sie trifft, wiedergeben. Das Gehirn interpretiert diese Signale dann als Tonhöhe, Lautstärke und Klangfarbe.

Obwohl die biochemischen Prozesse zur Erzeugung der elektrischen Signale je nach Sinnesmodalität variieren, basiert die Interpretation der Prozesse auf den elektrischen Signalen, die im Gehirn ankommen. Wenn aber alle Interpretationen, wie bei einem Roboter, durch die Verarbeitung von elektrischen Signalen erzeugt werden, wie können wir sie dann als verschiedene Qualitäten wahrnehmen? Eine mögliche Antwort ist eben, dass es im menschlichen Gehirn eine nicht-physikalische Sphäre gibt und dass die verschiedenen Qualitäten durch nicht-physikalische Prozesse geschaffen werden.

 

Der Glaube an nicht-physikalische Prozesse wird gefördert durch die Tatsache, dass die Beschreibung des Mikrokosmos zunehmend abstrakt wird. Schon 1934 bemerkte Werner Heisenberg dass die Quantenmechanik von der allgemeinverständlichen Sprache der klassischen Physik wegdriftet und mathematische Objekte verwendet, welche nicht mehr anschaulich interpretiert werden können (siehe Die Quantentheorie und das Schisma der Physik). Das Abstrakte ist dem Geistigen näher. Und wie wissen wir, dass unsere Messinstrumente sensibel genug sind um alle Phänomene messen?

 

 

 

What is mind? – No matter.

What is matter? – Never mind.

 

Author unknown

 

 

 

Eigenschaftsdualismus

Die Diagnose des schwierigen Problems des Bewusstseins hat Chalmers zu einer Position geführt, die Eigenschaftsdualismus genannt wird, die sich stark vom klassischen Dualismus unterscheidet. Der klassische Dualismus war von zwei Substanzen ausgegangen – Materie und Geist–, während der Eigenschaftsdualismus die traditionelle Vorstellung von Geist ablehnt. Der Eigenschaftsdualist behauptet jedoch, dass der Mensch neben den physikalischen Eigenschaften (etwa Masse oder Form) auch nicht-physikalische Eigenschaften hat (nämlich Erlebnisgehalte oder Qualia).

 

Der Weg vom schwierigen Problem des Bewusstseins zur These des Eigenschaftsdualismus basiert auf folgender Idee: Der Erlebnisgehalt muss im Prinzip auf die grundlegenden physikalischen Eigenschaften reduzierbar sein – wenn der Materialismus wahr ist. Eine solche Reduktion setzt nach Chalmers jedoch ein Moment der Notwendigkeit voraus, welches die grundlegenden physikalischen Eigenschaften und die höherstufigen Eigenschaften miteinander verbindet. Diese Notwendigkeit ist aber im Fall des Erlebnisgehalts nicht gegeben (…). Also ist der Materialismus falsch (David Chalmers, Wikipedia)

Obwohl Chalmers den Materialismus für falsch hält, ist ein Naturalist. Er glaubt zwar, dass Erlebnisinhalte (Qualia) nicht auf physikalische Prozesse reduzierbar sind, aber dass sie durch physikalische Prozesse verursacht werden. Diese Sichtweise ist auch für die libertarische Willensfreiheit relevant. Wenn wir annehmen, dass Qualia durch physikalische Prozesse erzeugt werden, aber nicht vollständig durch die Physik beschrieben werden können, dann könnte man argumentieren, dass Ähnliches für den freien Willen gilt.

 

 

 

3.4  Kritik aus Sicht des Naturalismus

 

 

Definitionen

Die nachfolgenden Begriffe 1 bis 4 sind schrittweise Erweiterungen:

1.     Der Materialismus behauptet, dass alle Dinge aus Materie bestehen und dass grundsätzlich alle Phänomene aus materiellen Interaktionen resultieren, einschließlich Bewusstsein und Gefühle.

2.     Der Physikalismus ist eine Weiterentwicklung des Materialismus, der auf anspruchsvolleren Begriffen wie Raumzeit, Energie und Kraftfeld basiert. In manchen Texten werden allerdings die Begriffe Materialismus und Physikalismus synonym verwendet.

3.     Der Naturalismus sagt, dass alles, was existiert mit Naturgesetzen erklärt werden kann. Der Begriff «alles» schliesst nicht-physikalische (aber natürliche) Phänomene wie Qualia ein, und auch die Phänomene einer noch zu entdeckenden Physik. In manchen Texten wird allerdings der Begriff Naturalismus auf die heute bekannten physikalischen Phänomene und Gesetze eingeschränkt.

4.     Der Supranaturalismus stellt eine Erweiterung des Naturalismus auf übernatürliche Phänomene dar.

 

 

Leib-Seele Dualismus

Naturalisten gehen davon aus, dass nicht nur die Entscheidungsvorbereitung, sondern auch der Entscheid selbst eine zeitliche Ausdehnung beansprucht und einen naturgesetzlichen Prozess spiegelt, bei welchem der Erwerb von Gewohnheiten und/oder das bewusste Abwägen von Präferenzen eine Rolle spielt [Hampe 2007, 173-174]. Bei einer spontanen oder absichtlich verkürzten Entscheidung fällt das Abwägen von Präferenzen weg aber der Entscheid beansprucht trotzdem eine gewisse zeitliche Ausdehnung und kann nie im physikalischen Sinne instantan sein. Diese These wird dadurch gestützt, dass (mit Ausnahme der Quantenverschränkung in der Quantenmechanik) keine instantanen Wirkungen bekannt sind.

 

Eine nicht-physikalische Kraft, welche auf das Gehirn wirkt und dort Energie und Impuls verändert, würde die Erhaltungssätze der Physik verletzen [Esfeld, 180]. Die Quantenmechanik wäre unvollständig im Bereich von gewissen neurophysiologischen Prozessen [Esfeld, 184]. Dies ist ein (zu) hoher Preis für die These des interaktionistischen Dualismus.

Eccles’ Position zum Leib-Seele-Problem wird heute zumeist als unplausibel betrachtet und als Beispiel dafür gesehen, wie stark das Denken vieler Hirnforscher von religiösen Überzeugungen und von einem interaktionistischen Dualismus im Sinne René Descartes geprägt sei (John Carew Eccles, Wikipedia).

 

 

Eigenschaftsdualismus

Die Annahme des Hard Problems of Consciousness wird von einigen Materialisten abgelehnt. Einer der vehementesten Widersacher Chalmers’ ist hierbei Daniel Dennett, dem zufolge sich Qualia mit den Konzepten der Emergenz und der Heterophänomenologie objektiv erklären lassen, wohingegen Dennett laut Chalmers das Problem damit nur „wegdefinieren“, aber nicht in der Realität lösen würde (David Chalmers, Wikipedia).

Emergente Eigenschaften entstehen aus den Interaktionen in komplexen Systemen, können aber nicht auf die Komponenten-Eigenschaften dieser Systeme reduziert werden. Aber nehmen wird an, dass Chalmers recht behalten sollte und dass tatsächlich nicht-physikalische Phänomene im Gehirn existieren. Dann gibt es immer noch die Möglichkeit, dass diese Phänomene nicht kausal wirken, so wie es der Epiphänomenalismus in der Hirnforschung postuliert (Kap.6.5). Der Weg vom Eigenschaftsdualismus zur libertarischen Willensfreiheit ist noch weit.

 

 

Verbreitung der Positionen

In einer 2009 durchgeführten Erhebung wurde der Verbreitungsgrad der Positionen zum Physikalismus unter Philosophen ermittelt (…). Von 931 teilnehmenden Philosophen wurden zur Frage «Physikalismus» die Wahlmöglichkeiten „Ich akzeptiere“ oder „Ich neige zu“ wie folgt auf drei vorgegebene Positionen verteilt [Bourget, 15]:

 

Position

Prozent

Physikalismus

56,5

Nicht-Physikalismus

27,1

Andere

16,4

 

Grundsätzlich kann man die libertarische Willensfreiheit als unwiderlegte Hypothese betrachten. Für Physikalisten – d.h. für die Mehrheit der heutigen Philosophen – gilt sie aber als unplausible Hypothese. Physikalisten sind in der Regel harte Deterministen (Kap.4) oder Kompatibilisten (Kap.5).

 

Bourget und Chalmers weisen darauf hin, dass in der Wissenschaft oft diejenige Sichtweise als "wahr" gilt, welche von der Mehrheit der Experten vertreten wird (wie z.B. beim Klimawandel). Warum sollte das bei den Philosophen anders sein? Weil die philosophischen Positionen – in einer historischen Sicht – weniger konvergieren als wissenschaftliche Positionen, argumentieren die Autoren [Bourget, 2]. Die Mehrheits-Meinung tendiert zwar zum Physikalismus, aber die Bourget & Chalmers-Studie ist eigentlich ein Plädoyer für Minderheits-Meinungen. Die Umfrage-Ergebnisse mögen für Libertarier ziemlich deprimierend sein, aber ein Antidepressivum ist auch dabei.

 

 

 

4. Harter Determinismus

 

 

4.1  Definition

 

Harte Deterministen vertreten die Auffassung, dass die Willensfreiheit eine Illusion ist. Sie begründen ihre Position durch die Determiniertheit der physikalischen Zustände, aus welchen die mentalen Zustände hervorgehen. Weiche Deterministen (auch Kompatibilisten genannt) lehnen diese reduktionistische Sichtweise ab (Kap.5).

Harte und weiche Deterministen sind Naturalisten, d.h. sie sind im Gegensatz zu den Libertariern (Kap.3) der Meinung, dass es keine mentale Sphäre ausserhalb der Naturgesetze gibt.

 

-      Frühe Vertreter des harten Determinismus sind John Stuart Mill (1806–1873), Max Planck (1858–1947), Albert Einstein (1879–1955) und David Bohm (1917-1992) (Determinismus, Wikipedia).

-      Zeitgenössische Vertreter sind Ted Honderich (1933-), Jerry Coyne (1949-), Galen Strawson (1952-) und Derk Pereboom (1957-) (Verantwortung, Wikipedia)

 

 

 

4.2  Vorgeschichte

 

 

Indische Antike

Die älteste Ablehnung der Willensfreiheit stammt wahrscheinlich aus der monistischen Hindu Tradition (Advaita). Eine zeitgemässe Formulierung findet man z.B. bei Swami Vivekananda (1863-1902), einem Vedantisten:

Therefore we see at once that there cannot be any such thing as free-will; the very words are a contradiction, because will is what we know, and everything that we know is within our universe, and everything within our universe is molded by conditions of time, space and causality. ... To acquire freedom we have to get beyond the limitations of this universe; it cannot be found here (Free Will in Theology, Wikipedia)

 

 

Griechische Antike

Der Determinismus wurde durch griechische Philosophen des 7. und 6. Jahrhundert vor Christus entwickelt, spezifisch durch die Vorsokratiker Heraklit und Leukipp. Später befassten sich Demokrit und Aristoteles und vorwiegend die Stoiker damit, in der römischen Antike auch Mark Aurel. Der Determinismus ist eng verwandt mit dem Materialismus, deren antike Vordenker nach natürlichen Erklärungen der Wirklichkeit anstelle der mythologischen suchten. Als wesentlicher gedanklicher Vater des Determinismus gilt der antike griechische Philosoph Demokrit. Mit seiner Lehre des atomistischen Materialismus führte er alles Geschehen auf das Zusammenspiel elementarer natürlicher Abläufe zurück und entkoppelte damit die Natur von transzendenten und metaphysischen Einflüssen und der damals verbreiteten Auffassung, dass Götter beständig in das Weltgeschehen eingriffen. Wenn das Weltgeschehen festgelegt ist, scheint dies im Widerspruch zur Existenz eines freien Willens zu stehen (Determinismus, Wikipedia).

 

 

Prädestination

Prädestination bedeutet „Vorherbestimmung“ und ist ein theologisches Konzept, nach dem Gott von Anfang an das Schicksal des Universums und aller Menschen vorherbestimmt hat. Die Prädestinationslehre wird insbesondere mit Augustinus von Hippo (354-430) und dem Calvinismus (1509-1564) verbunden (Prädestination, Wikipedia)

 

Ein radikaler Vertreter der Prädestination war auch Gottschalk von Orbais (803-869)

Gottschalk bediente sich des wohl erstmals bei Isidor von Sevilla (560-636) zu findenden Ausdrucks der doppelten Vorherbestimmung. Diese Auffassung vertritt, verkürzt ausgedrückt, den Standpunkt, Gott habe schon vor ihrer Geburt nicht nur die Erlösten ausgewählt, sondern ebenso jene vorherbestimmt, die vor ihm keine Gnade finden werden (Gottschalk von Orbais, Wikipedia)

 

Durch die Ablehnung der Willensfreiheit vermeidet die Prädestination die Widersprüche, welche zwischen

-      der Idee einer menschlichen Willensfreiheit und

-      der Überzeugung „dass nichts geschieht ohne den Willen Gottes“ entstehen.

In der Neuzeit wurde die Prädestination allmählich durch das Konzept des naturwissenschaftlichen Determinismus abgelöst. Aus dieser Sicht ist der allmächtige Gott nicht tot (wie Nietzsche postulierte) sondern lebt in der Form der Naturgesetze weiter.

 

 

Klassische Mechanik

Die Grundsteine der klassischen Mechanik und so auch indirekt das Konzept des Determinismus wurden von Isaac Newton (1642-1726) gelegt (Isaac Newton, Wikipedia)

 

Determinismus (von lateinisch: determinare abgrenzen, bestimmen) ist ein philosophisches Konzept und zusammen mit seinem Gegenstück, dem Indeterminismus, ein wesentliches Grundelement zur Herausbildung eines konsistenten Weltbildes. Er geht davon aus, dass alle Ereignisse nach feststehenden Gesetzen ablaufen und sie durch diese vollständig (vorher-) bestimmt bzw. determiniert seien. Deterministen sind also der Auffassung, dass bei bekannten Naturgesetzen und dem vollständig bekannten Zustand eines Systems der weitere Ablauf aller Ereignisse prinzipiell vorherbestimmt ist und folglich weder ein echter Zufall, noch Wunder bzw. ähnliche nicht-physische Phänomene existieren (Determinismus, Wikipedia)

 

In der klassischen Mechanik ist der Begriff Determinismus eng mit dem Begriff Kausalität verknüpft:

Kausalität (v. lat.: causa = Ursache) bezeichnet die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung, betrifft also die Abfolge aufeinander bezogener Ereignisse oder Zustände. Ein Ereignis oder Zustand A ist die Ursache für die Wirkung B, wenn B von A herbeigeführt wird (Kausalität, Wikipedia).

 

 

 

 

Wann geht die Wirkung der Ursache voraus?

Wenn ein Arzt hinter dem Sarg seines Patienten geht.

 

Robert Koch

 

 

 

Baruch Spinoza (1632-1677) postulierte dass die Ordnung und Verknüpfung der Ideen dieselbe ist wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge. So wie in der Welt der materiellen Körper keine Wirkung ohne (zwingende) Ursache möglich ist, so ist in der Geisteswelt ein Willensentschluss ohne Motiv nicht möglich. Alles geschieht aus kosmischer Notwendigkeit. Damit schloss Spinoza jede Willensfreiheit aus (Spinoza, Wikipedia).

 

Der französische Aufklärer Paul Henri D’Holbach (1723-1789) postulierte, dass alles einer wechselseitigen Abhängigkeit unterworfen ist, wie Teile in einem geschlossenen System. Er verneinte jede transzendente Intervention in dieses System, insbesondere durch göttliches Eingreifen oder durch einen absolut freien Willen [Pépin, 7].

 

Auch Joseph Priestley (1732-1804) vertrat bereits im 18.Jh. einen radikalen Determinismus, in welchem der Wille dem Kausalgesetz unterworfen war und die Entschlüsse auf die Hirnzustände zurückgeführt wurden (Geschichte des freien Willens, Wikipedia).

 

Pierre-Simon Laplace (1749-1829) untersuchte die Frage, ob die Welt bei vollständigem Wissen berechenbar wäre:

Der Laplacesche Dämon ist die Veranschaulichung der erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Auffassung, nach der es möglich ist, unter der Kenntnis sämtlicher Naturgesetze und aller Initialbedingungen jeden vergangenen und jeden zukünftigen Zustand zu berechnen. Mit dieser Aussage wäre es theoretisch möglich, eine Weltformel aufzustellen (Laplacescher Dämon, Wikipedia).

In einem gewissen Sinne steht der Determinismus von Laplace in der Nachfolge der Prädestinationslehre und sein Dämon übernimmt die Rolle des allwissenden Gottes.

 

 

 

4.3  Moderner Determinismus

 

 

Thermodynamik

Gegen Ende des 19.Jh stellte sich heraus, dass der scheinbar kausale Zusammenhang zwischen Druck, Volumen und Temperatur von Gasen (siehe Gasgesetz) auf der Wahrscheinlichkeitsverteilung von Molekülgeschwindigkeiten beruht:

-      Die Temperatur ist ein Mass für die mittlere kinetische Energie der umherschwirrenden Moleküle

-      Der Druck ist der (pro Zeiteinheit) auf die Flächeneinheit der umgebenden Wand abgegebene Impuls der Moleküle

Das Gasgesetz ist in Wahrheit ein statistisches Gesetz. [Vollmer 2000, S.229]

 

Die kinetische Gastheorie verwendet statistische Methoden, weil die untersuchten Prozesse nicht im Detail kalkuliert werden können, beruht aber im Übrigen auf den Gesetzen der klassischen Mechanik. Ob die klassische Mechanik und die Wahrscheinlichkeitsrechnung ausreichen, um die Zunahme der Entropie zu erklären, darüber stritten sich Ernst Zermelo und Ludwig Boltzmann Ende des 19.Jh. [Boltzmann]:

-      Zermelo monierte, dass in einem dynamischen System von Punktmassen die Zustände sich wiederholen (Wiederkehrsatz von Poincaré). Folglich kann eine Funktion von Punktmassen die ständige Zunahme der Entropie nicht erklären.

-      Boltzmann antwortete, dass die Wiederholung der Zustände nicht beobachtet wird, weil sie eine fast unendlich lange Beobachtungszeit erfordert. Eine Mischung von Wasserstoff und Sauerstoff in einem isolierten Behälter bei Raumtemperatur kann theoretisch Wasser produzieren. Das wurde aber noch nie beobachtet.

Nach dem molekularkinetischen Gesichtspunkt ist der zweite Hauptsatz der Thermodynamik lediglich ein Satz der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Die Tatsache, dass wir niemals Ausnahmen beobachten, beweist nicht, dass der statistische Standpunkt falsch ist, da die Theorie voraussagt, dass die Wahrscheinlichkeit für eine Ausnahme, wenn die Molekülzahl gross ist, praktisch gleich Null ist [Boltzmann, 276].

-      Zermelo erweiterte jetzt die Betrachtungsweise von einem isolierten Gasbehälter auf die gesamte Natur. Wenn der zweite Hauptsatz lediglich ein Satz der Wahrscheinlichkeitsrechnung ist, dann sollte die Entropie in der Natur gleich häufig zu- wie abnehmen. Boltzmanns Theorie kann die gesamthafte Zunahme der Entropie nicht erklären.

-      Boltzmann musste schliesslich einräumen, dass sich das Universum in einem unwahrscheinlichen Zustand befindet. Warum dies so ist, darüber wird noch heute gerätselt (siehe Entropie). Um das deterministische Weltbild zu retten muss man annehmen, dass sich das Universum am Anfang in einem Zustand extrem tiefer Entropie befand oder dass die fundamentalen Gesetze der Physik Zeit-asymmetrisch sind [Smolin]. Boltzmann versuchte die extrem tiefe Anfangs-Entropie durch eine unermesslich seltene Fluktuation zu erklären [Silk, 27].

 

 

Systemtheorie

Anfangs des 20.Jh. wurde das Weltbild der klassischen Mechanik durch Entdeckungen im Bereich der Systemtheorie relativiert:

Der Begriff allgemeine Systemtheorie geht auf den Biologen Ludwig von Bertalanffy (1901-1972) zurück. Seine Arbeiten bilden zusammen mit Norbert Wiener’s (1894-1964) Kybernetik die grundlegenden Überlegungen dieses Wissenschaftsansatzes. Die neueste Strömung innerhalb der Systemtheorie ist die Theorie komplexer Systeme. Ein komplexes System ist dabei ein System, dessen Eigenschaften sich nicht vollständig aus den Eigenschaften der Komponenten des Systems erklären lassen. Komplexe Systeme entstehen überwiegend durch Prozesse der spontanen Selbstorganisation. Beispiele sind chemische Reaktionen, die Evolution und die geistigen Prozesse im Gehirn. Die Theorie der Komplexen adaptiven Systeme beschreibt Phänomene wie die Emergenz, die Anpassung und die Selbstorganisation (Systemtheorie, Wikipedia).

 

Im Kontext der Systemtheorie muss der Begriff Determinismus wie folgt präzisiert werden:

-      Deterministisch sind auch Systeme, deren Dynamik unter bestimmten Bedingungen empfindlich von den Anfangsbedingungen abhängt, so dass ihr Verhalten nicht langfristig vorhersagbar ist. Da diese Dynamik einerseits den physikalischen Gesetzen unterliegt, andererseits aber irregulär erscheint, bezeichnet man sie als deterministisches Chaos. Chaotische Systeme sind nichtlineare dynamische Systeme (Chaosforschung, Wikipedia).

-      Deterministisch sind schliesslich alle Prozesse, welche zu einer sog. (un-)glücklichen Verkettung von Umständen führen, siehe z.B. Murphy’s Laws.

Der Begriff Zufall wird z.T. im Kontext von mathematischen Singularitäten verwendet, z.B. bei Bifurkationen. Weil aber in diesen Fällen das System durch mathematische Gleichungen beschrieben werden kann, verwenden wir hier den Begriff „unechter Zufall“.

Eine gute Einführung in die Chaostheorie findet man im Aufsatz Strukturen im Chaos (1991) von H.J.Schlichting.

 

In der Praxis hat der unechte Zufall ähnliche Auswirkungen wie der echte Zufall. In komplexen deterministischen Systemen ist das Ergebnis eines Experiments bei identischen Bedingungen zwar immer gleich, aber die Bedingungen sind in der Praxis nie genau gleich.

Singularitäten bzw. instabile Punkte in den Berechnungsmodellen auch innerhalb der deterministischen klassischen Mechanik bewirken, dass beliebig kleine Unterschiede im Anfangszustand nach hinreichend langer Zeit zu maximal großer Abweichungen der Ergebnisse führen. Das Ergebnis wird von „unmessbar kleinen Fluktuationen bestimmt und ist daher unmöglich vorhersagbar“. Zusammen mit prinzipiellen Grenzen exakter Messbarkeit impliziert dies „die Existenz objektiv indeterminierter Prozesse auch im Größenbereich der Makrophysik“ (Indeterminismus, Wikipedia)

Es wäre wohl konsequent hier von praktischem Indeterminismus zu sprechen, im Gegensatz zu theoretischem Indeterminismus. Der erstere beruht auf dem unechten Zufall, der letztere auf dem echten Zufall.

 

 

Spezielle Relativitätstheorie

Der erste Philosoph, der darüber nachdachte, ob die Spezielle Relativitätstheorie den Determinismus beweisen könnte, war J. J. C.Smart. In der Zeitschrift Mind präsentierte er 1961 das logische Standardargument gegen den freien Willen und im Jahre 1964 diskutierte er Minkowskis Argument für ein Blockuniversum. Die Spezielle Relativitätstheorie wird als Argument für den Determinismus verwendet, weil die Zeit mathematisch eine vierte Dimension darstellt [Doyle 2020].

 

1989 präsentierte Roger Penrose das sog. Andromeda-Paradox, um zu beweisen, dass das Universum aus Gründen der speziellen Relativitätstheorie vorherbestimmt ist. Das Paradox besteht aus zwei Beobachtern, die sich zum selben Zeitpunkt am selben Ort befinden und in ihrem "gegenwärtigen Moment" unterschiedliche Ereignisse in der Andromeda-Galaxie wahrnehmen könnten. Keiner der beiden Beobachter kann tatsächlich "sehen", was in Andromeda geschieht, denn das Licht von Andromeda wird 2,5 Millionen Jahre brauchen, um die Erde zu erreichen. Es geht lediglich darum, welche Ereignisse nach Ansicht verschiedener Beobachter im gegenwärtigen Augenblick stattfinden (Andromeda-Paradox, Wikipedia)

 

Bild aus [Doyle 2020]

 

Das Konzept der Raumzeit liefert hervorragende Ergebnisse für Experimente an sich bewegenden Objekten. Es erklärt die seltsame Lorentz-Kontraktion von Objekten im Raum, und die Zeit-Dilatation für Beobachter in schnell bewegten Bezugsrahmen. Aber die Schlussfolgerung, dass die Zeitdimension wie eine Raumdimension betrachtet werden kann und dass die Zukunft – wie ein Teil des Raumes – bereits existiert (sog. Eternalismus) ist zu einfach [Doyle 2020]. Für eine detaillierte Analyse des Andromeda Paradoxes siehe Being and Becoming in Modern Physics, Stanford Encyclopedia of Philosophy.

 

 

Quantenmechanik

Die Quantenmechanik hat eine Diskussion darüber ausgelöst, ob die Welt fundamental deterministischen oder im innersten zufälligen Prinzipien gehorcht (…). Beim radioaktive Zerfall ist bekannt, dass nach dem Verstreichen der Halbwertszeit hinreichend genau die Hälfte der radioaktiven Atome zerfallen sein werden – welche einzelne Atome zerfallen sein werden, lässt sich hingegen nicht vorhersagen. Der Umstand, dass der Zerfall im Makroskopischen durchaus deterministisch ist, lässt am "Zufall" Zweifel aufkommen. Eher kann man sagen, dass sich ein eigentlich kontinuierlicher gesetzmässiger Vorgang auf Quantenebene in nicht vorhersehbaren Einzelereignissen manifestiert. So wie beim radioaktiven Zerfall eine gleichmäßige zeitliche Verteilung "gequantelt" wird, manifestieren sich beim Doppelspaltversuch die Photonen in einer räumlichen Zufallsverteilung zu einem Interferenzmuster. Im letzteren Falle bemüht man den Welle-Teilchen-Dualismus als Erklärung. Während die Photonen ein Muster auf den zwei Raumdimensionen des Schirms formen, formen die radioaktiven Zerfallsereignisse ein Muster auf der Zeitachse (Zufall, Wikipedia)

 

Einstein vermutete, dass die Gesetze der Quantenmechanik von verborgenen Variablen auf einer noch fundamentaleren Ebene bestimmt sein könnten, so wie die Gasgesetze von den deterministischen (kinetischen) Gesetzen der Moleküle bestimmt werden. In einem Gedankenexperiment von 1935 stellten Einstein, Podolsky und Rosen (EPR) ein Szenario vor, welches zeigen sollte, dass Quantenteilchen (wie z.B. Elektronen und Photonen) physikalische Eigenschaften haben, die in der Quantentheorie fehlen. Zwei quantenmechanisch verschränkte Photonen (siehe Entanglement) werden in entgegengesetzte Richtung gesendet. Ein Photon hat verschiedene Drehimpulskomponenten (Spin) und das Messresultat ist davon abhängig, welche Komponente gemessen wird [Koberlein]. Im EPR-Experiment wird die zu messende Komponente zufällig gewählt:

 

 

 

Bild von Andrew Friedman und Jason Gallicchio [Dillon]

 

Zwei Experimentatoren, Alice und Bob (oder alternativ zwei Zufallsgeneratoren), wählen jeweils (a,b), d.h. sie wählen wie ihre Hälfte eines Paares verschränkter Teilchen gemessen werden soll. Wenn diese Entscheidungen nicht wirklich "freie" Entscheidungen wären, sondern stattdessen subtil mit verborgenen Informationen in der Vergangenheit des Experiments korreliert wären, dann wäre es möglich, dass eine alternative Theorie (und nicht die Quantenmechanik) die "gespenstischen" Korrelationen zwischen den Messergebnissen (A,B) erklären könnte. Friedman und Kollegen versuchten (mit Erfolg) solche verborgenen Informationen auszuschliessen, indem sie als Zufallsgenerator das Licht von Sternen und Quasaren verwendeten [Dillon].

 

Einen Superdeterminismus der (nicht nur die Detektoreinstellungen) sondern alles von Anfang an vorherbestimmt, kann man allerdings immer noch nicht ausschließen. Man kann aber jetzt sagen, dass der Zeitpunkt, zu welchem diese Vorherbestimmung stattgefunden haben müsste, vor 7,8 Mia Jahren liegt. Das ist die Zeit, welche das im Experiment verwendete Licht braucht, um die Erde zu erreichen. Informationen zur spekulativen Theorie des Superdeterminismus findet man in [Hossenfelder & Palmer].

 

Eine konkurrierende Theorie, welche auf verborgenen Variablen beruht, stammt von Louis de Broglie und David Bohm. Es ist eine deterministische Theorie, in der die quantenmechanische Wellenfunktion als "Führungswelle" für unbeobachtbare Teilchenbahnen betrachtet wird. Die De-Broglie-Bohm-Theorie ist allerdings eine nichtrelativistische Theorie, und eine befriedigende Erweiterung für den relativistischen Fall steht noch aus (Verborgene Variablen, Wikipedia).

 

Die bisherigen Ergebnisse stützen die Vermutung von Erwin Schrödinger, dass die quantenmechanische Art von Wahrscheinlichkeit (Propensitäten) grundlegender ist als die in der Thermodynamik untersuchte.

Gemäss der Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik ist der Wahrscheinlichkeitscharakter quantentheoretischer Vorhersagen nicht Ausdruck der Unvollkommenheit der Theorie, sondern des prinzipiell nicht-deterministischen Charakters von Naturvorgängen (Kausalität, Wikipedia).

Streng genommen muss man alle physikalischen Gesetze als Hypothesen betrachten. Aber aus heutiger Sicht hat die Quantenmechanik den physikalischen Determinismus beseitigt, welcher (mit Hilfe von Laplaces Dämon) die gegenwärtigen Ereignisse mit den Ereignissen in der Zukunft verbindet. Die Zukunft ist nicht vorherbestimmt.

 

 

Kausalität

In der Physik gibt es mindestens drei Kausalitäts-Begriffe [Falkenburg 2007]:

1.     Der Kausalitäts-Begriff der klassischen Mechanik, welcher eng mit dem Begriff Determinismus verknüpft ist (Kap.4.1).

 

2.     Die Einstein-Kausalität der Signalübertragung.

Seit Einstein wissen wir, dass sich Kausalität nur mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten kann. Die instantane Ausbreitung von Information wäre demnach ein nicht-kausales Ereignis. Die Allgemeine Relativitätstheorie wird zwar oft als eindeutig deterministisch eingestuft, doch die Singularitäten dieser Theorie (z.B. die ominösen Schwarzen Löcher) vertragen sich schlecht mit dem Kausalitäts-Begriff der klassischen Mechanik [Schulte]. Laut Einsteins Theorie ist es – im Gegensatz zur klassischen Mechanik – auch möglich, dass ein Beobachter ein Ereignis A vor B sieht und ein anderer Beobachter B vor A, abhängig von der relativen Geschwindigkeit der beiden Beobachter zueinander [Brooks, 23]. Im Kontext der Hirnprozesse (und damit der Willensfreiheit) ist die Einstein-Kausalität nicht relevant.

 

3.     Die probabilistische Kausalität der Quantenmechanik.

Obwohl die Quantenmechanik nicht deterministisch ist, ist sie dennoch kausal, was man insbesondere daran erkennt, dass auch die Quantenmechanik es nicht erlaubt, Ereignisse in der Vergangenheit zu verändern (Kausalität, Wikipedia).

In der Quantenmechanik wird das Prinzip der Kausalität durch eine große Anzahl von Messungen aufrechterhalten, die sich im Mittel wieder kausal verhalten (Kausalität, Wikipedia).

Wahrscheinlichkeiten für Quanten-Ereignisse sind durch vorausgehende Quanten-Ereignisse verursacht [Esfeld, 183]. Eine allfällige Creatio ex nihilo wäre auch aus quantenmechanischer Sicht ein nicht-kausales Ereignis.

 

Im folgenden Diagramm wird der Begriff Determinismus dem erweiterten Begriff von Kausalität untergeordnet.

 

 

 

 

4.4  Argumente gegen die Willensfreiheit

 

Der harte Determinismus ist viel älter als die Hirnforschung und verwendete schon in der Antike reduktionistische, physikalische Argumente (Kap.4.2).

o   In diesem Kapitel befassen wir uns mit der Fortführung dieser Tradition.

o   Auf die Argumente von anderen Wissenschaftsbereichen wird in Kap.6 eingegangen. Es gibt dort eine mehr oder weniger grosse Skepsis gegenüber der Willensfreiheit aber in der Regel keine totale Verneinung. Die Ausnahme von der Regel findet man in der Hirnforschung, wo prominente Forscher (z.B. Wolf Singer, Gerhard Roth) einen Determinismus der Hirnprozesse postulieren und/oder das Bewusstsein nur als Epiphänomen betrachten; siehe Kap.6.5

 

 

Determinismus der Hirnprozesse

Es gibt Spekulationen, wonach die Quantenphysik eine entscheidende Rolle bei der Entstehung des Lebens spielte [Davies], aber die meisten Physiker vertreten die Ansicht, dass der echte Zufall nicht auf die Ebene der Hirnprozesse durchschlägt. Die Unbestimmtheit quantenmechanischer Systeme (Superpositionszustand) verschwindet in komplexen Systemen wie dem menschlichen Gehirn (siehe Dekohärenz). Die Hirnforschung arbeitet in der Praxis mit der Hypothese, dass die Hirnprozesse deterministisch ablaufen, wobei aber in diesem Begriff das deterministische Chaos (der unechte Zufall) eingeschlossen ist. Wolf Singer vergleicht das menschliche Gehirn mit einem Computer, bei dem die Hardware so flexibel ist wie Software und aufgrund äusserer Einflüsse ständig neu verschaltet wird. Die Architektur und der jeweilige Zustand des Systems "Gehirn" sind für den jeweils folgenden Zustand (in Kombination mit den äußeren Einflüssen) determinierend [Hucklenbroich, 4].

 

Harte Deterministen betonen, dass das Verhalten auf der Makro-Ebene letztlich durch die Eigenschaften der Mikro-Ebene bestimmt wird (sog. methodological Reductionism). Aus dieser Sicht kann das Zusammenwirken von deterministischen Hirnprozessen nicht mehr sein als ein deterministisches System [Gebharter]. Und das ist für harte Deterministen ein hinreichender Grund, um den Begriff Willensfreiheit abzulehnen. Die wohl deutlichste Form dieser Ablehnung ist das sog. Konsequenz-Argument:

 

 

Das Konsequenz-Argument

Wenn der Determinismus wahr ist, dann sind unsere Handlungen die Folge von Naturgesetzen und Ereignissen in der fernen Vergangenheit. Aber wir können nicht beeinflussen, was vor unserer Geburt geschah, und wir können auch nicht beeinflussen, was die Naturgesetze sind. Wir können daher auch nicht die Folgen dieser Dinge (einschließlich unserer gegenwärtigen Handlungen) beeinflussen (Consequence Argument, Wikipedia)

 

Wir werden in diesem Kontext den Begriff Determinismus durch den Begriff Kausalitätsprinzip (Kap.4.3) ersetzen, damit klar ist, dass auch der echte Zufall mitwirkt, sowohl in der „fernen Vergangenheit“ als auch in der Gegenwart (über die Umwelteinflüsse auf das Gehirn). Die Zukunft ist nicht vorherbestimmt.

 

Eine leicht polemische Formulierung des Konsequenz-Argumentes findet man bei Sabine Hossenfelder:

„Ich finde es wenig erhellend, einen Streit über den Gebrauch von Worten zu führen. Wenn Sie das Wort Willensfreiheit so definieren wollen, dass es immer noch im Einklang mit den Naturgesetzen steht, ist das für mich in Ordnung, obwohl ich mich weiterhin beschweren werde, dass das nur verbale Akrobatik ist. Auf jeden Fall können wir, egal wie Sie das Wort definieren, immer noch nicht unter mehreren möglichen Zukünften auswählen. Diese Idee macht absolut keinen Sinn, wenn man etwas von Physik versteht“ (…). Einige haben den freien Willen durch die Fähigkeit anders zu handeln, definiert. Aber das sind nur leere Worte. Wenn Sie eine Sache getan haben, gibt es keinen Beweis dafür, dass Sie etwas anderes hätten tun können. Es gibt nur die Fantasie, etwas anderes getan zu haben [Hossenfelder].

 

In empirischen Studien stimmen die Teilnehmer tatsächlich zu, dass sie unter den gleichen Umständen "anders hätten handeln können", aber nur, wenn diese Formulierung als eine Frage der Fähigkeit interpretiert wird, aber nicht als eine Frage der (physikalischen) Möglichkeit [Huber].

 

 

Hypothetischer Indeterminismus

Würden sich echt zufällige Hirnprozesse positiv oder negativ auf die Willensfreiheit auswirken? Zahlreiche Philosophen vertreten die Meinung, dass sich nichts an der Situation ändert, weil die Menschen keine Kontrolle über echt zufällige Prozesse haben [Strawson 1994][Doyle 2021]. Aus ihrer Sicht ist Willensfreiheit weder mit dem Determinismus noch mit dem Indeterminismus vereinbar, eine Position für die Derk Pereboom den Begriff harter Inkompatibilismus vorschlug. Der Libertarismus ist in dieser Terminologie ein weicher Inkompatibilismus, weil er die Existenz der Willensfreiheit bejaht.

 

 

 

5. Kompatibilismus

 

 

5.1  Definition

 

Unter Kompatibilismus versteht man die These, dass Determinismus und Willensfreiheit vereinbar sind, d.h. dass es eine naturalistische Erklärung für die Willensfreiheit gibt. Kompatibilisten postulieren, dass Naturgesetze nicht im Widerspruch zur Freiheit stehen, sondern dass umgekehrt die Freiheit im Laufe der Evolution durch die Naturgesetze geschaffen wird.

-      Frühe Vertreter des Kompatibilismus sind Thomas Hobbes (1588-1679), John Locke (1632-1704), David Hume (1711-1776), William James (1842-1910) und Moritz Schlick (1882-1936).

-      Zeitgenössische Vertreter des Kompatibilismus sind Harry Frankfurt (1929-), Daniel C. Dennett (1942-) und Michael Pauen (1956-).

 

 

Klassischer Kompatibilismus

Traditionell haben die Kompatibilisten Freiheit im Sinne von "können", "Macht" und "Fähigkeit" definiert. Frei zu sein, so betonen die meisten Kompatibilisten, bedeutet im allgemeinen Sprachgebrauch

(A) die Macht oder Fähigkeit das zu tun, was wir tun wollen (wünschen oder wählen), und dies beinhaltet

(B) die Abwesenheit von Zwängen oder Hindernissen, die uns daran hindern, das zu tun, was wir wollen (wünschen oder wählen).

Zu den Zwängen oder Hindernissen, die sie im Sinn haben, gehören körperliche Einschränkungen, Mangel an Gelegenheiten, Zwang oder Nötigung, körperliche oder geistige Beeinträchtigungen und Ähnliches. Kompatibilisten haben typischerweise darauf bestanden, dass (A) und (B) das erfassen, was Freiheit im täglichen Leben bedeutet - nämlich die Abwesenheit solcher Einschränkungen und damit die Macht (= Fähigkeit plus Gelegenheit) zu tun, was immer man will oder tun möchte [Oxford].

Nehmen wir an, dass keine inneren oder äusseren Zwänge existieren. Dann ist die „Fähigkeit das zu tun, was wir wollen“ definiert durch die Selbstbestimmung des Handelns, die Existenz von Handlungsalternativen und die bewusste Verursachung der Handlungen [List 2020, 2].

 

 

Nicht-klassischer Kompatibilismus

-      Es gibt Versuche, das Konsequenz-Argument zu entkräften, indem man zeigt, dass die Fähigkeit anders zu handeln keine Voraussetzung für Willensfreiheit ist. Das meist-diskutierte Beispiel dieser Art ist der sog. Frankfurter Fall (Compatibilism, Stanford Encyclopedia of Philosophy).

-      Peter Bieri und Ansgar Beckermann postulieren, dass die Entscheidungsfreiheit des Menschen stark eingeschränkt ist (Kap.5.3) und dass es einer gezielten Reflexion und Persönlichkeitsbildung bedarf, um zu einer willentlichen Entscheidung zu kommen (Verantwortung, Wikipedia).

Für mehr Informationen zum nicht-klassischen Kompatibilismus siehe The Contours of Contemporary Free Will Debates (2011), The Oxford Handbook of Free Will.

 

 

 

5.2  Die Evolution der Willensfreiheit

 

Aus der Innenperspektive wird die Willensfreiheit als Wahlfreiheit nach bewusstem Abwägen von Präferenzen wahrgenommen. Aus kompatibilistischer Sicht ist dieses Phänomen ein Produkt der Evolution [Dennett 2003] welches sich in komplexen (offenen) thermodynamischen Systemen entwickelt hat. Massgeblich zu dieser Sicht beigetragen hat die Synergetik.

 

 

Synergetik und Evolution

Die Synergetik ist eine interdisziplinäre Theorie zwischen Reduktionismus und Holismus [Haken, 21]. In der Systematik der Einzelwissenschaften kann sie als Erweiterung (20.Jh.) der klassischen Thermodynamik (18.-19.Jh.) betrachtet werden. Sie konzentriert sich auf allgemeingültige Gesetzmässigkeiten der Selbstorganisation, der Strukturbildung und der Koevolution in komplexen Systemen und hat deswegen eine philosophische Dimension [Haken, 22]. Massgebend für die Entwicklung der Synergetik waren u.a. die Arbeiten von Ilya Prigogine (1917-2003), Hermann Haken (1927-) und Manfred Eigen (1927-).

 

Das Paradigma der Synergetik ist die Nichtlinearität:

Nichtlineare Gleichungen stellen eine Verbindung her zwischen Konzepten der Synergetik und der Evolution.

 

Die Menge der Lösungen einer nichtlinearen Gleichung entspricht der Menge der evolutionären Wege des Systems, das von dieser Gleichung beschrieben wird.

-      Unbedeutende Schwankungen können sich verstärken und zu makroskopischen Unterschieden anwachsen.

-      Es gibt Schwellen der Empfindlichkeit, unterhalb deren sich alles verwischt und keine Spuren hinterlässt

-      Es gibt so etwas wie einen „Quanteneffekt“, d.h. es ist nur ein diskretes und nicht ein kontinuierliches Spektrum der evolutionären Wege möglich.

-      Prozesse verändern sich auf eine nicht-vorhersagbare Weise. Prognosen auf der Basis des bisher Bekannten sind unzureichend. Durch die Zufälligkeit der Wahl eines Weges im Bifurkationspunkt, wird ein Weg einzigartig.

[Haken, 32-33].

 

Zufall steht in enger Beziehung zur Entropie. Entropie ist ein Mass für die Unordnung und entspricht informationstheoretisch dem Mass an Zufallsereignissen. Sind Informationsfolgen rein zufällig, dann ist die Entropie maximal. Ist die Information völlig geordnet, dann ist die Entropie gleich Null. Überträgt man dieses Modell von Zufall und Ordnung auf die Evolution, so haben lebende Organismen einen hohen Ordnungsgrad, die Entwicklungsverläufe von biologischen Arten und deren Veränderung jedoch eine geringe Vorhersagbarkeit. Wir können nur im Nachhinein folgern, wie und warum sich eine evolutionäre Entwicklung so und nicht anders vollzogen hat [Oerter, 400].

Eine gute Übersicht über die hier verwendeten Begriffe findet man im Aufsatz Energie, Entropie, Synergie - Ein Zugang zur nichtlinearen Physik (1993) von H.J.Schlichting.

 

 

Das Entstehen von Ordnung und Kontrolle

Die Synergetik hat gezeigt, wie fern vom thermodynamischen Gleichgewicht spontan Ordnung aus dem Chaos entstehen kann. Die Zunahme der Ordnung entspricht einer Abnahme der Entropie. Im Kontext eines Lasers lässt sich dies wie folgt beschreiben:

Wir werden an diesem Beispiel (dem Laser) sehen, dass sich auch unbelebte Materie selbst organisieren kann, um sinnvoll erscheinende Vorgänge hervorzubringen. Hierbei werden wir auf merkwürdige Gesetzmässigkeiten stossen, die sich wie ein roter Faden durch alle Erscheinungen der Selbstorganisation hindurchziehen. Wir werden erkennen, dass sich die einzelnen Teile wie von einer unsichtbaren Hand getrieben anordnen, andererseits aber die Einzelsysteme durch ihr Zusammenwirken diese unsichtbare Hand erst wieder schaffen. Diese unsichtbare Hand wollen wir den „Ordner“ nennen [Haken, 19]

 

Um mit den Worten der Synergetik zu sprechen, versklavt der Ordner die einzelnen Teile. Der Ordner ist wie ein Puppenspieler, der die Marionetten tanzen lässt, bei dem aber die Marionetten selbst wieder auf den Puppenspieler einwirken (…). Die Zwangsläufigkeit der Entstehung von Ordnung aus dem Chaos ist weitgehend unabhängig vom materiellen Substrat, auf dem sich die Vorgänge abspielen. Ein Laser kann sich genauso wie eine Zellansammlung verhalten [Haken, 20-21]

Weitere Beispiele für solche dynamische Ordnungszustände findet man im Anhang.

 

Ein chaotisches System kann zuverlässig und reproduzierbar funktionieren, wenn die zeitlichen Mittelwerte der Komponenten nur wenig von den Anfangsbedingungen abhängen. So ist z.B. der Zustand eines Gases durch die Grössen Druck, Volumen und Temperatur festgelegt, obwohl sich die einzelnen Moleküle zufällig verhalten [Berry, 62]. Aus zufälligem Verhalten auf der Mikroebene folgt nicht zwangsläufig, dass auch die Dynamik auf einer höheren Ebene ungeordnet abläuft.

-      Gewisse chaotische Systeme schwanken zwischen Attraktoren hin- und her. Die Geruchserkennung wurde z.B. durch einen Mechanismus erklärt, bei welchem jedem spezifischen Geruch ein Attraktor zugeordnet ist [Berry, 66].

-      Im technischen Bereich haben Systemtheoretiker gezeigt, dass man chaotische Systeme mit Hilfe eines Regelkreises oder einer Synchronisation stabilisieren kann [Letellier, 28-31].

Solche Mechanismen mögen erklären, warum ein Gehirn steuern und kontrollieren kann, obwohl es von den Molekülen bis zu den neuronalen Netzen einer chaotischen Dynamik unterworfen ist [Berry, 62][Dennett 2017, 218].

 

 

Die Entstehung von Leben

Die Gestaltbildung in Lebewesen ist nur aus dem Zusammenwirken des konservativen und dissipativen Prinzips zu verstehen:

-      Konservative Kraftwirkungen frieren den Zufall ein und schaffen beständige Formen und Muster.

-      Dynamische Ordnungszustände entstehen aus der zeitlichen Synchronisation physikalischer und chemischer Prozesse unter ständiger Dissipation von Energie.

Die Gestalt der Lebewesen hat ihren Ursprung im Wechselspiel von Zufall und Gesetz [Hampe 2007, 126].

Für detailliertere Informationen zu diesem Erklärungsansatz siehe Anhang.

 

Das Konzept der Autopoiesis beantwortet die Frage, welches die notwendigen und hinreichenden Eigenschaften der Systeme sind, die als „lebendig“ bezeichnet werden können. Die Kriterien der autopoietischen Systeme legen nahe, dass es sich um eine Teilmenge der Selbstorganisation im Bereich der biologischen Evolution handelt (Autopoiesis, Wikipedia).

Selbstorganisierende Systeme sind selbstreferentiell und weisen eine operationale Geschlossenheit auf. Das bedeutet, dass jedes Verhalten des Systems auf sich selbst zurückwirkt. Beispiele:

-      DNA ist ein Molekül, das sich selbst kopieren kann. Dies ist möglich, weil die DNA-Struktur Informationen über die Art und Weise ihrer Replikation enthält.

-      Ein Replikations-System kann auch die Umgebung einschliessen. Parasiten sind z.B. nur dann lebensfähig, wenn man den Wirt einbezieht. Das Gleiche gilt auch für Viren, aber diese haben (im Gegensatz zu Parasiten) keinen eigenen Stoffwechsel und gelten deshalb nicht als „lebendig“.

 

Ein neuer Versuch, die Kriterien für das Phänomen «Leben» zu definieren ist die Assembly Theory. Diese Theorie postuliert, dass komplexe biologische Strukturen und Funktionen durch schrittweise Akkumulation von einzelnen Bausteinen entstehen. Diese Bausteine können genetische Elemente, Proteine oder andere molekulare Komponenten sein. Die Evolution operiert auf der Ebene von Modulen oder Bausteinen, die sich allmählich zusammensetzen, um komplexe Organismen und ihre Merkmale zu bilden [Lewton].

 

 

Strategien der Evolution

Mit der Emergenz der Willensfreiheit auf physikalischer Grundlage beschäftigt sich eine Fülle von neuen Wissenschaften wie evolutionäre Psychologie, Neurobiologie und Kognitionswissenschaften. Wir begnügen uns hier mit einem kurzen philosophischen Erklärungsansatz:

Zwei der wichtigsten Faktoren, welche die Handlungsoptionen erweitern (steigern), sind die folgenden:

-      Eine neue Individualität (Gestalt), welche sich durch eigenständige Gesetze ausdrückt.

-      Eine erweiterte Fähigkeit zur Reflexion. Reflexion ist eine notwendige Voraussetzung für Willensfreiheit.

 

Reflexion kann die Überlebensfähigkeit (Darwinsche Fitness) verbessern, führt aber nicht zwingend zu einer Überlegenheit gegenüber anderen Lebewesen. Bakterien sind auch ohne „höhere Intelligenz“ äusserst überlebenstüchtig, weil sie aufgrund ihres flexiblen Erbgutes ständig neue Gestalten (und damit Handlungsoptionen) bilden.

In der Evolution sind zufällige Mutationen nach heutigem Wissen weit häufiger als selektive Anpassung [Oerter, 400].

Zwischen der Überlebensstrategie der Gestaltenbildung und der Reflexion entwickelt sich ein Wettkampf dessen Ausgang offen ist:

-      Bakterien finden immer wieder Wege um die Abwehrstrategien der menschlichen Körper und Medikamente zu überlisten

-      Die medizinische Forschung erweitert ständig ihr Wissen um diese Listen zu durchschauen

[Schatz].

 

Der folgende phylogenetische Baum zeigt die Vielfalt konkurrierender Konzepte:

 

 

http://2.bp.blogspot.com/-rsBSMgbZJ9Q/VeOiENrIQ8I/AAAAAAAAC4M/r9LMo3d5fco/s1600/1.1-tree-of-life.gif

 

 

Bild aus dem Internet (Autor unbekannt)

 

 

Stufen der Willensfreiheit

Bei der Definition der Willensfreiheit in Kap.2 wurde nicht explizit gesagt, aber angenommen, dass die Entscheidungsprozesse bewusst ablaufen. Bakterien spricht man keine Willensfreiheit zu, weil sie kein Bewusstsein haben und ihr Verhalten fix programmiert ist. Der Übergang von fixen Programmen zu komplexen Entscheidungsprozessen ist jedoch fliessend:

 

Das einfache Lebewesen ist noch völlig in physikalisch-chemische Reaktionsprozesse eingebettet. Je komplexer Lebewesen werden, desto mehr erhöhen sich die Freiheitsgrade. Zunächst dominieren Reiz-Reaktionskopplungen. Diese starre Kopplung wird im Laufe der Evolution durch die Fähigkeit zu lernen aufgeweicht. Schon Insekten lernen, Würmer, Vögel, am meisten aber die Säugetiere. Lernen bedeutet mehr Freiheit, weil neue Reiz-Reaktionskopplungen aufgebaut werden können. Verhaltensmuster werden ergänzt oder modifiziert. Nachahmungslernen ist ein komplexer Lernvorgang, bei dem Verhaltensmuster übernommen werden. Das Spielverhalten taucht in der Phylogenese unabhängig von der Gehirnentwicklung als eigene Entwicklungslinie auf und hat eine enorme Bedeutung für die Vermehrung von Freiheitsgraden unseres Handelns [Oerter, 401].

 

Bei Nervenzellen dient Zellaktivität dem Schaffen von Freiheitsgraden und nicht primär der Selbsterhaltung wie bei den anderen Zellen des Organismus [Kastner, 78]. Je mehr Freiheitsgrade zur Verfügung stehen, desto höher sind die Anforderungen an die Kontrolle. Wenn auch nur einer der sechs Freiheitsgrade eines Flugzeuges nicht mehr kontrolliert werden kann, dann wird es schwierig zu landen. Es ist die Kontrolle über die Freiheitsgrade, welche es erlaubt ein Ziel anzusteuern bzw. einen Willen zu formulieren. Das menschliche Gehirn verfügt über fast unendlich viele kontrollierbare Freiheitsgrade. Das Gefühl der Willensfreiheit ist deshalb keine Täuschung, obwohl es sich um ein deterministisches System handelt. Aber es gibt auch viele Möglichkeiten die Kontrolle über Freiheitsgrade zu verlieren, durch die soziale Umgebung, Krankheiten, Unfälle, Altern usw.

 

Auch Bewusstsein ist kein Alles-oder-Nichts Phänomen, sondern tritt graduell auf. Bewusstsein ist zudem kein einheitliches Phänomen, sondern hat verschiedene Aspekte:

-      Wahrnehmung der Aussenwelt

-      Aufmerksamkeit

-      Gefühle, insbesondere das Ich-Gefühl

-      Gedächtnis

-      Reflexionen höherer Ordnung, insbesondere das Wissen um die eigene Existenz

[Metzinger 2009, 36].

Weil es verschiedene Stufen von Freiheitsgraden und Reflexion gibt, ist auch die Willensfreiheit ein graduierbares und steigerungsfähiges Phänomen. Von Willensfreiheit im rechtlichen Sinne sprechen wir erst, wenn die Bedingungen von Kap.2.1 erfüllt sind.

 

Es folgen ein paar Beispiele zur Erweiterung der Handlungsoptionen durch Individualität und Reflexion.

 

 

Handlungsoptionen durch Individualität

Die graduierbare und steigerungsfähige Individualität ist ein Gradmesser für Handlungsoptionen. Sie entspricht einer spezifischen Gesetzmässigkeit, der gegenüber das Chaos wie ein Gleichmacher wirkt [Hampe 1996, 67]. Den elementaren biologischen Bedürfnissen entsprechen elementare Handlungsoptionen. Komplexe kulturelle Bedürfnisse erzeugen demgegenüber eine Vielzahl von neuen Handlungsoptionen.

Beispiel:

Individuen wie Torwart, Stürmer, Verteidiger, Schieds- und Linienrichter werden erst durch die Gesetze (Regeln) des Spiels erzeugt. Diese Regeln strukturieren einen Bereich neuer Handlungen, welchen die physikalischen und biologischen Gesetze von menschlichen Wesen offenlassen [Hampe 1996, 70].

 

Das Verhältnis von Gesetzmässigkeiten zueinander kann man sich mit dem Bild von übereinandergelegten Netzen mit unterschiedlicher Maschengrösse veranschaulichen.

1.     Ein grossmaschiges Netz veranschauliche die physikalischen Gesetzmässigkeiten. Diese determinieren nicht alles, sie lassen Lücken offen.

2.     Legen wir über dieses grobe Netz das feinere der biologischen Gesetze, so kreuzen sich auch dort Fäden, wo das Netz der physikalischen Gesetzmässigkeiten Lücken liess.

3.     Aber auch die biologischen Gesetze fangen nicht alles ein, determinieren die Menschen nicht vollständig. Die Gesetze eines Spiels, eines moralischen Codes oder eines staatlichen Rechtssystems können das Verhalten der Menschen über die physikalischen und biologischen Regeln hinaus weiter determinieren.

[Hampe 1996, 71].

 

Die Regeln der zweiten Ordnung durchbrechen nicht die Regeln der ersten Ordnung sondern bauen auf ihnen auf.

Ein Vogel, der fliegt, setzt die physikalischen Gesetze für träge Massen nicht ausser Kraft. Seine Bewegungen sind, anders als die von fallenden Äpfeln oder geschleuderten Steinen noch durch andere Regelmässigkeiten determiniert, aber sie liegen vollständig im Rahmen der physikalischen Gesetze (…). Durch diese weiteren Determinationen ergeben sich für den Vogel Möglichkeiten (Handlungsoptionen), die der fallende Apfel und der geschleuderte Stein nicht haben. [Hampe 1996, 72-73].

Das Prinzip der geschichteten Gesetze gilt auch für den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Lebewesen unterliegen zwar der Tendenz zur Zunahme der Entropie, aber eben nicht nur dieser. Es gibt weitere Determinationen, welche der Entropiezunahme entgegenwirken.

 

Wir sind sowohl natürliche Wesen, welche unabänderlichen Gesetzen unterliegen, wie auch kreative Wesen, die Regeln und Gesetze schaffen (…). Unsere Kreativität ist selbst eine natürliche Tatsache (…). Wir sind nicht in einen mechanistischen Naturzusammenhang eingebunden, der uns vollständig determiniert (…). Die Natur darf nicht als ein System starrer Gesetzmässigkeiten begriffen werden, sondern als ein Ort von Kreativität und Destruktion, von Entstehen und Vergehen von Gesetzmässigkeiten. Wir selbst sind als Erzeuger und Zerstörer von (sozialen) Gesetzen an diesem natürlichen Vorgang beteiligt [Hampe 1996, 197].

 

 

Handlungsoptionen durch Reflexion [Hampe 1996, 73]

Reflexion setzt Distanzierung voraus.

Erst da, wo eine Distanzierung von einer Gesetzmässigkeit erfolgt, fällt die Wirklichkeit nicht mehr vollständig mit dieser Gesetzmässigkeit zusammen [Hampe 1996, 74].

 

Distanzierung ermöglicht das Entdecken von Regelmässigkeiten und eröffnet damit neue Handlungsoptionen. Dies kann am Beispiel von Edgar Allan Poes Erzählung Sturz in den Mahlstrom erläutert werden [Hampe 1996, 75]

Einer von zwei fischenden Brüdern, die mit ihrem Boot in einen Meeresstrudel geraten waren, erkannte, nachdem seine Todespanik verflogen war, in der distanzierten Beobachtung des Geschehens im Wirbel eine Gesetzmässigkeit: Kleine zylindrische Körper werden nämlich langsamer hinabgezogen als grosse eckige. Der Fischer machte sich diese Erkenntnis zunutze: Indem er sich an ein Fass band und vom zylindrischen Schiff sprang, überlebte er.

Der Zusammenhang zwischen der Form eines Gegenstandes und seiner Anziehung durch den Mahlstrom entspricht einem Naturgesetz und damit einer Art von Beschreibung, welche zur Auswahl steht. Die wissenschaftliche Beschreibung zeigt eine Rettungsmöglichkeit, während magische bzw. religiöse Beschreibungen (wie Höllenschlund, Strafe Gottes usw.) zum Tode führen. Kontrollverlust und Aberglaube müssen zwar nicht tödlich enden, aber Selbstkontrolle und Reflexion erweitern die Handlungsoptionen, während irrationale Ängste die Freiheit einschränken.

Beispiel: Geschichten über Magnetberge, welche Schiffe anziehen und zerschellen lassen, bewirkten, dass gewisse Meeresgegenden weniger befahren wurden. Die naturwissenschaftliche Beschreibung des Erdmagnetfeldes vergrösserte umgekehrt die Freiheit. Der Magnetkompass wird noch heute zur Navigation eingesetzt.

 

Die Erzählung von Edgar Allan Poe illustriert, dass die Handlungsoptionen auch erweitert werden können ohne Gesetzmässigkeit zu durchbrechen, nämlich dann, wenn es gelingt Lücken im Muster der Determination zu erkennen.

Der Fischer überlebt nicht trotz, sondern wegen der Gesetzmässigkeiten des Wirbels. Ein Vogel oder ein Flugzeug fliegen nicht trotz, sondern wegen der Gesetzmässigkeiten, die für schwere Körper gelten [Hampe 1996, 74].

 

Lebewesen haben viel mehr Freiheitsgrade als feste Körper. Ein Stein und ein Vogel unterliegen beide der Schwerkraft, aber der Vogel hat Systemeigenschaften, welche ihm erlauben, die Bewegungsrichtung selbständig anzusteuern. Der Vogel überwindet die Schwerkraft oder er nutzt sie zu seinem Vorteil (etwa wenn er sich fallen lässt). Der Vogel ist in diesem Sinne freier als der Stein. Die Menschen können sich nicht von den Naturgesetzen befreien aber sie können (wie der Vogel) versuchen, sie zu ihrem Vorteil zu nutzen.

 

Distanzierung kann mit einem Figur-Grund-Verhältnis illustriert werden [Hampe 1996, 76]:

-      Das Unlebendige bildet den Hintergrund, vor dem die Gesetzmässigkeiten der Lebewesen als Figur sichtbar werden

-      Das Sittliche, die Selbstbestimmung durch ein moralisches Gesetz, macht die Figur vor dem Hintergrund einer lediglich organisch determinierten Existenz aus.

 

Der Grad der Distanzierung, den ein Individuum erreicht hat (…), kann auch von aussen gleichsam „gemessen“ werden. Massstab ist dabei die Häufigkeit, mit der man in der Prognose des Verhaltens eines Individuums bei der Anwendung einer bestimmten Gesetzmässigkeit Erfolg hat. [Hampe 1996, 77].

 

Die höhere Ebene determiniert die offenen Bereiche der unteren Ebene aus und übt damit eine gewisse Kontrolle aus [Hampe 1996, 80-81].

Beispiel: Hierarchie der menschlichen Rede:

1.     Hervorbringung stimmlicher Laute. Diese Ebene lässt die Kombination der Laute zu Wörtern weitgehend offen

2.     Regelung der Laute zu einem Vokabular: Auf dieser Ebene bleibt offen, wie die Wörter zu Sätzen verbunden werden.

3.     Grammatik: Auf dieser Ebene bleibt offen, welcher Gedankengang vermittelt werden soll.

Ein Hinaufsteigen in der Hierarchie entspricht einer Zunahme der Ordnung. Es sind aber nicht beliebige Ordnungen möglich. Es kann nicht beliebige lebendige Organisationen geben und man kann auch nicht aus den physikalischen Gesetzen auf die Gattungen und ihre Physiologie schliessen.

 

Der Gedanke, dass Individualität gesteigert werden kann und dass diese Steigerung mit einer Vervielfältigung der Möglichkeiten einhergeht, relativiert das Selbstbild des Menschen, der einer gesetzmässigen Natur gegenübersteht (…). Die Fähigkeit zur Freiheit und zur Erkenntnis hängen miteinander zusammen [Hampe 1996, 86].

 

Von Willensfreiheit im moralischen Sinne (Schuldfähigkeit) spricht man erst, wenn die eigenen Präferenzen reflektiert werden können und zu Handlungsoptionen werden. Menschen haben eine gewisse Fähigkeit sich von ihrer biologischen Determination zu befreien und ihre Energie auf kulturell anerkannte Verhaltensweisen umzulenken (sog. Sublimierung). Die typisch menschliche Freiheit besteht darin, dass diese Verhaltensweisen verwirklicht werden können, aber nicht müssen [Dennett 2020, 156-157]. Freiheit ist untrennbar mit Verantwortung verbunden.

 

 

 

 

L'homme est condamné à être libre.

 

Der Mensch ist zur Freiheit verdammt.

 

Jean-Paul Sartre in L’Être et le Néant

 

 

 

 

5.3  Reichweite der Willensfreiheit

 

Die Reichweite der kompatibilistischen Willensfreiheit ist umstritten. Die Maximalforderung lautet:

Wir sind nur dann frei, wenn wir der Ursprung all unserer Präferenzen sind [Strawson 2011].

 

Ist diese Forderung sinnvoll?

1.     Welche Entscheidungen ich treffe, das hängt von meinen Präferenzen und letzten Endes von meinem Charakter ab – davon, was für ein Mensch ich bin. Aber frei können meine Entscheidungen nur dann sein, wenn meine Präferenzen ihrerseits auf mich und nicht auf Umstände zurückgehen, auf die ich keinen Einfluss habe. Die Frage ist nun, ob es wirklich sinnvoll ist anzunehmen, Personen könnten in diesem Sinne tatsächlich die letzte Quelle und der Ursprung aller ihrer Ziele und Absichten sein. Die Formulierung ist zumindest irritierend. Menschen kommen doch nicht als Wesen ohne alle Wünsche und Absichten auf die Welt, um sich dann die Wünsche und Präferenzen auszusuchen, die sie gerne haben würden. Ein Wesen ohne Wünsche und Absichten hätte gar kein Motiv, sich überhaupt Ziele und Absichten zuzulegen, und es hätte auch keine Kriterien, nach denen es auswählen könnte (…)

Es kann gar nicht anders sein, als dass wir schon mit einer beträchtlichen Zahl natürlicher Wünsche auf die Welt kommen – den Wünschen nach Essen, Geborgenheit, Zuwendung usw. (welche der biologischen Nutzenfunktion untergeordnet sind). Es ist nicht besonders sinnvoll zu sagen, die Natur manipuliere uns dadurch oder mache uns dadurch unfrei, dass sie uns diese Wünsche mit auf den Weg gibt. Unsere Freiheit beruht vielmehr darauf, dass sich in uns Menschen im Laufe der Zeit die Fähigkeit entwickelt hat, uns unserer Wünsche bewusst zu werden und über sie nachzudenken [Beckermann 2005]

 

2.     Präferenzen entstehen durch eine bestimmte Konstitution und Lebensgeschichte und charakterisieren eine Person [Bieri, 175]. Willensfreiheit ist nicht Beliebigkeit. Beliebige Präferenzen sind unpersönliche Präferenzen. Dass jemand etwas Bestimmtes will, können wir nur verstehen, wenn wir die Vorgeschichte dieses Wollens kennen [Bieri, 230-239]. Die Fähigkeit sich mühelos von einer Sucht, von Liebeskummer oder vor der Todesangst zu befreien würde nicht nur den Verlust von persönlichen, sondern auch von menschlichen Charaktereigenschaften bedeuten. Für diese Fähigkeit müsste man einen neuen Begriff schaffen, z.B. transhumanistische Willensfreiheit.

 

3.     Die Fähigkeit einen inneren Abstand zu sich aufbauen zu können und sich von Wünschen zu lösen wird oft als Erkennungsmerkmal der Willensfreiheit angeführt [z.B. Bieri, 226-228]. Das temporäre Loslösen bedeutet aber nicht, dass man in der Folge die Wünsche frei wählen kann. Eine vollständige Befreiung von Wünschen ist wahrscheinlich nur im Rahmen einer buddhistischen Einsichtsmeditation möglich. Ein solcher Zustand ist durch die Abwesenheit eines Willens gekennzeichnet und eignet sich deshalb schlecht zur Illustration der Willensfreiheit.

 

Fazit: Mit der obenstehenden Maximalforderung wird der Freiheitsbegriff ebenso überdehnt wie mit der Forderung, dass man die Naturgesetze übersteuern müsse, um frei zu sein [Dennett 2020, Free Will Inflation] [Bieri, 251-253]. Wenn man den Begriff Freiheit so verwendet, dann sind Menschen unfrei allein durch die Tatsache, dass sie Menschen sind [Dennett 2017, 220, 223].

Existentialistische Autoren scheinen einen solchen Freiheitsbegriff vertreten zu haben. In diesem Konzept vollständiger Autonomie bestimmen Menschen auch ihr Wesen selber, sie sind nicht nur Urheber ihrer Handlungen, sondern bringen sich selbst hervor [Hampe 2007, 173].

 

Auch bezüglich der Informiertheit gibt es eine Maximalforderung:

Wir sind nur frei, wenn wir die Handlungsalternativen vollkommen überblicken.

 

Unser evolutionär entwickeltes Potenzial zur Generierung mehrerer Aktionspläne wird durch das, was im Gehirn gespeichert ist, und das, was in der Umwelt vorhanden ist, eingeschränkt. Das Gefühl eines freien Willens ist also eine Illusion, da aufgrund der inhärenten Einschränkungen keine unbegrenzte (= vollständig freie) Anzahl von Plänen erzeugt wird [De Ridder].

Auch hier wird der Freiheitsbegriff überdehnt. Die menschliche Freiheit bewegt sich immer im Rahmen unvollkommener Information.

 

Etwas schwieriger ist die Frage, ob wir durch kulturell geformte Präferenzen einen Teil unserer Freiheit verlieren. Sind wir nicht oft von unbewussten Präferenzen gesteuert [Dennett 2017, 221]? Und sind die unbewussten Präferenzen wirklich vom Individuum „gewollt“? Von Fremdbestimmung könnte man vielleicht bei einem Kind sprechen, welches sich mit seiner Konstitution und Umgebung identifiziert [Dennett 2017, 223]. Sobald wir aber unsere biologischen und kulturellen Präferenzen reflektieren können, gewinnen wir auch die Freiheit sie zu hinterfragen. Peter Bieri und Ansgar Beckermann plädieren deshalb für eine „Erziehung zur Freiheit durch Reflexion“.

 

Man könnte nun argumentieren, dass die „Erziehung zur Freiheit“ fremdbestimmt ist. Intellektuelle in Los Angeles neigen z.B. eher zur Einsichts-Meditation als Intellektuelle in New York. Die letzteren neigen eher zur Psychoanalyse als die ersteren. Abhängig von der sozialen Umgebung in die wir geboren werden (und anderen biographischen Zufällen) wird unsere Freiheit mehr oder weniger eingeschränkt oder „umgelenkt“. Mit Umlenken ist gemeint, dass unbewusste Einschränkungen in einem Bereich der Psyche die Freiheit in einem anderen Bereich vergrössern können. Beispiele:

1.     Selbstkontrolle und Verdrängung aggressiver Gedanken (Tötungswünsche im Besonderen) beseitigen die latente Gefahr, das Gewaltmonopol des Staates zu verletzen und im Gefängnis zu landen. Wenn alle ihre Agressionen kontrollieren, dann vergrössert sich die Bewegungsfreiheit in der Gemeinschaft erheblich.

2.     Ein Pianist gewinnt Spontaneität (Freiheit) im künstlerischen Ausdruck, indem er zuerst durch einen harten Lernprozess die Technik der Tastenbeherrschung im Unterbewussten verankert [GAD, Hampe].

Der ausgebildete Pianist (und in einem gewissen Sinne jeder disziplinierte Durchschnittsbürger) sind nicht der Ursprung ihrer kulturellen Präferenzen, weil diese durch ein Bildungsprogramm geformt wurden. Sollten wir ihnen deshalb die Willensfreiheit absprechen? Diese Frage wird in Kap.6.1 bis 6.4 näher untersucht.

Die tiefgründigsten Zweifel an der Reichweite der Willensfreiheit werden von Hirnforschern wie Sam Harris, Chris Frith, John Bargh, John-Dylan Haynes, Gerhard Roth und Wolf Singer geäussert. Hat das Bewusstsein überhaupt eine steuernde Funktion? Diese Frage wird in Kap.6.5 näher untersucht.

 

Grundsätzlich sind Kompatibilisten der Meinung, dass die Menschen über genügend Willensfreiheit verfügen, um eine Rechtsprechung in Sinne von Kap.2.1 zu begründen [Bieri, 251-253].

 

 

 

5.4  Argumente gegen den harten Determinismus

 

Harte Deterministen bezeichnen die kompatibilistische Willensfreiheit als „unecht“ oder Illusion [Hossenfelder]. Sie postulieren, dass die Denkprozesse, welche wir in der Innenperspektive als Willensfreiheit wahrnehmen, von einer höheren Macht (den Naturgesetzen) gesteuert sind, und dass die Letzt-Urheberschaft der Entscheidungen bei dieser höheren Macht liegt. Harte Deterministen betrachten die Willensfreiheit als Überbleibsel der Volkspsychologie, das durch die Vorstellung einer bio-physikalischen Maschine ersetzt werden muss [List 2020, 2]. Nachfolgend einige Argumente gegen diese Sichtweise:

 

 

Das Argument des unvollständigen Wissens

Die physikalische Beschreibung der Hirnprozesse ist unvollständig (Kap.3.3) und die physikalischen Theorien stehen auf einer unsicheren Grundlage (Kap.2.2, Geltung der Gesetze). In diesem Zusammenhang hat die Idee des  Panpsychismus wieder an Bedeutung gewonnen. Er gründet auf folgender These:

Das Geistige lässt sich nicht auf das Physische reduzieren, und irgendwie muss die Eigenschaft, die es einer bestimmten Konfiguration von Materie (z. B. dem Gehirn) ermöglicht, unter besonderen Umständen "Bewusstsein" zu zeigen, in aller Materie vorhanden sein, angefangen bei den grundlegendsten Bestandteilen.

Die Vorstellung, dass das Geistige auf der elementarsten Ebene existiert, findet man zum Beispiel in der Philosophien von Albert North Whitehead und Philip Goff. Der Panpsychismus ist eine mögliche Grundlage des Eigenschaftsdualismus (Kap.3.3). Im Libet-Experiment (Kap.6.5) könnten z.B. die Vorbereitung und Initiierung der Handlung von unbewussten geistigen Prozessen begleitet werden, während das Bewusstsein erst mit der sichtbaren Handlung ins Spiel kommt. Die Frage, ob und wie das Geistige kausal wirksam ist, bleibt allerdings ungeklärt. Es könnte auch eine kausal unwirksame Begleiterscheinung der physikalischen Prozesse sein, so wie es der Epiphänomenalismus postuliert. Die Tatsache, dass es in der Physik und in der Hirnforschung noch viele ungelöste Rätsel gibt lässt aber die Möglichkeit eines freien Willens zumindest offen.

 

 

Antireduktionismus

Das wichtigste Argument gegen den harten Determinismus ist der Antireduktionismus:

Reduktionismus ist die philosophische Lehre, nach der ein System durch seine Einzelbestandteile (‚Elemente‘) vollständig bestimmt wird. Dazu gehört die vollständige Zurückführbarkeit von Theorien auf Beobachtungssätze, von Begriffen auf Dinge und von gesetzmäßigen Zusammenhängen auf kausale Ereignisse (Reduktionismus, Wikipedia)

„Den Reduktionismus leugnen heißt Wissenschaft leugnen“ [Hossenfelder] sagt Sabine Hossenfelder, aber die wissenschaftliche Akzeptanz des Antireduktionismus hat in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen. Wesentlich dazu beigetragen hat die Synergetik (Kap.5.2). Die Synergetik ist eine Erweiterung der klassischen Thermodynamik und damit ein Teil der Physik.

 

Aus Sicht der Kompatibilisten ist das Zurückführen komplexer Phänomene auf die Gesetze einfacher Strukturformen der Natur in keiner Weise akzeptabel. Sie sind der Meinung, dass durch das Zusammenwirken der Einzelbestandteile neue Phänomene entstehen, welche nicht mit den Begriffen der Mikro-Ebene erklärt werden können [Haken, 27]. Entropie existiert z.B. nicht auf der Ebene einzelner Partikel, und mit den Eigenschaften der unbelebten Materie kann man das Phänomen Leben nicht erklären. Um die Vorstufen der Freiheit zu beschreiben eignen sich nicht-reduktionistische Begriffe wie Selbstorganisation und Abwärtskausalität. Aus diesen Vorstufen entstehen im Laufe der Evolution autonom handelnde Agenten, welche Prozesse kontrollieren mit Hilfe von Rückmeldungen [Dennet 2020, 150-154]. Willensfreiheit ist kein Alles-oder-Nichts Konzept, sie existiert in verschiedenen Entwicklungsstufen und Qualitäten (siehe Kap.5.2).

 

 

Zum Konsequenz-Argument

Weil die Bedingungen für die Willensfreiheit auf der elementaren physikalischen Ebene nicht erfüllt sind, nehmen die harten Deterministen an, dass sie überhaupt nicht erfüllbar sind [List 2019]. Sie betrachten das Kausalitätsprinzip als ausreichenden Grund, um den Menschen die Willensfreiheit abzusprechen. Die Tatsache, dass ein Ereignis verursacht wird, macht es aber nicht per Definition unfrei; entscheidend ist wie es verursacht wird. Die Emergenztheorie sagt, dass in komplexen hierarchischen Systemen auf einer höheren Ebene neue Eigenschaften entstehen können, die mit den Eigenschaften der tieferen Ebenen nicht erklärbar sind. Die Theorie der emergenten Kausalität sagt nun, dass dies auch auf die Kausalität zutreffen kann (ein Beispiel ist die oben erwähnte Abwärtskausalität). In diesen Fällen kann man das Verhalten des Systems nicht aus der Kausalität der klassischen Mechanik, der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik (Kap.4.3) ableiten, weil es in der Struktur des Systems begründet ist [Ball] [Inchbald]. Diese Struktur wird zwar durch die elementaren Arten der Kausalität geschaffen; aber wenn sie einmal existiert, dann macht sie sich sozusagen «selbständig» und folgt einer eigenen Kausalität auf der Ebene des Gesamtsystems. Betrachten wir zwei Interpretationen des Konsequenz-Argumentes, bzw. der Aussage „Unsere Handlungen werden kausal durch Ereignisse in der fernen Vergangenheit bestimmt“ (Kap.4.4):

1.     «Unsere Handlungen sind vorausberechenbar». Diese Aussage kann mit den Mitteln der heutigen Systemtheorie widerlegt werden (siehe Kap.4.3).

2.     «Unsere Handlungen sind das Resultat von Kausalketten». Diese Aussage ist nicht falsch, aber auch nicht hilfreich zum Verständnis der komplexen Systeme, um die es hier geht. Für Kompatibilisten sind (auch in die ferne Vergangenheit zurückreichende) Kausalketten keine Widerlegung der Willensfreiheit, wenn man sie als elementare Bausteine von Wechselwirkungen, Rückkopplungen und Netzwerken betrachtet (siehe Kap.5.2).

 

 

Merkmale der Willensfreiheit

Nehmen wir an, dass keine inneren oder äusseren Zwänge existieren. Dann ist die klassisch-kompatibilistische Willensfreiheit definiert durch

(1)  die Selbstbestimmung des Handelns,

(2)  die Existenz von Handlungsalternativen und

(3)  die bewusste Verursachung der Handlungen

[List 2020, 2].

 

 

(1)  Die Selbstbestimmung des Handelns

Der Gedanke an Kausalketten ist mit dem gleichen Gefühl der Unfreiheit verbunden, wie eine Fahrt auf Schienen im Vergleich zu einem Vogelflug. Die Assoziation von Kausalketten mit Fremdbestimmung ist aber irreführend [Dennett 2020, 153]. Peter Bieri nennt dieses Gefühl der „Fahrt auf Schienen“ eine Fiktion, weil auch die kreativen und befreienden Tätigkeiten (die eher einem Vogelflug gleichen) auf Kausalketten beruhen [Bieri, 295-300]. Im menschlichen Gehirn sind Kausalketten elementare Bausteine von Wechselwirkungen, Rückkopplungen und Netzwerken.

 

Von einer Manipulation durch das Kausalitätsprinzip (siehe Marionetten-Metapher in Free Will) könnte man nur dann sprechen, wenn die eigenen Hirnprozesse in Wahrheit fremden Präferenzen dienen würden. Das Kausalitätsprinzip ist aber neutral [Dennett 2020, 152]; es erschafft und vertritt keine übergeordneten Präferenzen. Im Gegenteil: Es erschafft und vertritt (über die Mechanismen der Evolution) autonom handelnde Agenten mit eigenen Präferenzen. Es treibt ihre biologische und kulturelle Entwicklung voran, einschliesslich der Reflexionen, welche die Freiheit steigern (Kap.5.2):

“Determinism is the friend, not the foe, of those who dislike inevitability” (Daniel C. Dennett).

Ein Vogel kann nicht trotz der Naturgesetze fliegen, sondern dank der Naturgesetze [Hampe 1996, 74]. Im gleichen Sinne ist ein Mensch nicht frei trotz der Naturgesetze – wie die Libertarier sagen würden – sondern dank der Naturgesetze.

 

Man könnte nun argumentieren, dass zwar das Kausalitätsprinzip neutral ist, nicht aber die genetischen Anlagen und die kulturelle Umgebung des Individuums. Eine radikale Definition des selbstbestimmten Handelns verlangt, dass wir der Ursprung all unserer Präferenzen sind. Aus kompatibilistischer Sicht überdehnt eine solche Maximalforderung jedoch den Begriff der Willensfreiheit (siehe Kap.5.3).

 

 

(2)  Die Existenz von Handlungsalternativen

Gewisse Roboter können das Abwägen von Präferenzen mit einer gesetzmäßigen Logik modellieren und Entscheidungen mit einem Algorithmus optimieren. Das Verhalten eines solchen Roboters assoziieren wir jedoch nicht mit Willensfreiheit, unter anderem weil es vorausberechnet werden kann. Für Menschen ist berechenbares Verhalten nur eine von mehreren Verhaltensweisen. Insbesondere beim Erschaffen und Erkunden von Handlungsalternativen können neue Ideen beteiligt sein, die einem zufällig in den Sinn kommen oder zufällige Verbindungen zwischen bestehenden Ideen (spontane Erkenntnisse, freie Assoziationen, usw.). Handlungsalternativen können auch durch zufällige Ereignisse in der Aussenwelt entstehen. Aber entstehen durch den Zufall wirklich freie Handlungsalternativen? Wenn das Verhalten der Menschen ausschliesslich vom Zufall bestimmt würde, dann müsste man diese Frage verneinen. Ein Mensch hat jedoch die Wahl

-      zufällig entdeckte Handlungsalternativen sofort umzusetzen (spontanes Verhalten), oder

-      ihre Auswirkungen einer Prüfung zu unterziehen (kontrolliertes Verhalten).

Das Verhalten eines Menschen ist weder rein zufällig (beliebig) noch rein gesetzmässig (berechenbar) und erfüllt damit ein Kriterium von freien Handlungsalternativen [Doyle 2021].

 

Eine andere Frage ist, ob freie Handlungsalternativen den echten Zufall voraussetzen. Von echtem Zufall spricht man nur dann, wenn ein Experiment (wie in der Quantenmechanik) unter genau gleichen physikalischen Bedingungen verschiedene Resultate ergibt. Die meisten Physiker vertreten die Ansicht, dass der quantenmechanische Zufall nicht auf die Ebene der Hirnprozesse durchschlägt. In den Hirnprozessen wirkt somit nur der unechte Zufall, welcher im modernen Determinismus enthalten ist (Kap.4.3). In der Praxis hat jedoch der unechte Zufall ähnliche Auswirkungen wie der echte Zufall [Dennett 2020, 160 und 2017, 219].

 

Wegen der Mitwirkung des unechten Zufalls ist die Unberechenbarkeit des menschlichen Verhaltens nicht einfach eine Folge von fehlenden Detail-Informationen. Sie würde auch dann nicht verschwinden, wenn man die Hirnprozesse mathematisch modellieren könnte. Am besten sieht man das anhand eines Beispiels aus der Mechanik: Ein einfaches Pendel ist vollständig determiniert, aber ein Doppelpendel ist bereits unberechenbar. Das Ganze ist freier als die Summe seiner Teile. Möglicherweise entspricht die Nicht-Vorausberechenbarkeit eines spontanen Entscheides der Nicht-Vorausberechenbarkeit eines neuronalen Netzes, welches sich in einem chaotischen Zustand befindet. Die Wahrnehmung der „kausalen Lücke“ (Kap.3.2) wäre dann sozusagen die Innenperspektive eines solchen Prozesses.

 

Aber gibt es nicht auch Roboter, deren Verhalten unberechenbar ist? Gewisse Roboter folgen persönlichen Präferenzen, reagieren auf zufällige Ereignisse in der Aussenwelt und verarbeiten spontane Impulse (eines Zufallsgenerators) aus der Innenwelt. Mit diesen Eigenschaften sind sie in der Lage Kunstwerke zu erzeugen, welche kaum von denjenigen eines Menschen zu unterscheiden sind [Paquette]. Wir betrachten sie aber trotzdem nicht als frei, solange sie „nur“ Kunstwerke produzieren können. Wenn es um die Willensfreiheit von Menschen geht, dann sind die Anforderungen an das Kriterium „Handlungsalternativen“ entsprechend hoch.

 

 

(3)  Die bewusste Verursachung der Handlungen

Autonome Kampfroboter oder humanoide Roboter nähern sich vielleicht schon bald den genannten Merkmalen (1) und (2) der Willensfreiheit. Wir würden sie aber trotzdem als unfrei betrachten, solange sie keine Gefühle und kein Bewusstsein haben. Gefühle sind ein integraler Bestandteil jeder bewussten Erfahrung [Damasio] und setzen möglicherweise ein biologisches Substrat voraus. Und weil das grundlegende phänomenale Bewusstsein notwendigerweise Gefühle beinhaltet, tun dies auch alle anderen Arten von Bewusstsein, die darauf aufbauen [Kolodny, 4]. Erkenntnis wird oft von ähnlichen Gefühlen begleitet wie das Entdecken eines neuen Raumes mit neuen Handlungsoptionen, oder wie das Verlassen eines ausgetretenen, irreführenden oder blockierten Pfades. Gefühle entfalten eine kausale Wirkung und spielen eine massgebende Rolle bei Entscheidungen.

 

Auch Menschen sind in einem gewissen Masse unfrei (wie Roboter) wenn sie von unbewussten Motiven gesteuert werden (Kap.5.3). Aber Menschen können (im Gegensatz zu Robotern) ihr Unbewusstes erforschen und die Motive ihres Handelns bewusst machen. Die gezielte Erweiterung der Willensfreiheit durch Reflexion wurde von Peter Bieri als Handwerk der Freiheit bezeichnet [Bieri]. Von Willensfreiheit im moralischen Sinne (Schuldfähigkeit) spricht man erst, wenn die eigenen Präferenzen reflektiert werden können und zu Handlungsoptionen werden.

 

Wir können natürlich nicht ausschliessen, dass künstliche Intelligenzen oder transhumane Wesen in der Zukunft auch über Gefühle, Selbstreflexion und Moralbewusstsein verfügen. Aber das wäre dann kein Argument gegen die Willensfreiheit, sondern ein Argument für die Existenz von Willensfreiheit ausserhalb der menschlichen Spezies.

 

 

Metatheoretisches Argument

Schliesslich gibt es noch ein metatheoretisches Argument gegen den harten Determinismus. Es postuliert, dass man die Mikro- und Makroebene als separate Realitäten beschreiben darf, ohne wissenschaftliche Prinzipien zu verletzen [List 2020, 12]:

-      Prämisse 1: Unsere besten Erklärungen für menschliches Verhalten beschreiben die Menschen als Handelnde, die Entscheidungen treffen. Menschen sind Handelnde mit Zielen und Zwecken, mit alternativen Möglichkeiten, aus denen sie wählen können, und mit Kontrolle über ihre Handlungen. Diese Beschreibung ist unverzichtbar und kompatibel mit dem Rest der Wissenschaft.

-      Prämisse 2: Wenn das Postulieren bestimmter Eigenschaften oder Entitäten für unsere besten Erklärungen eines gegebenen Phänomens unabdingbar und mit der übrigen Wissenschaft vereinbar ist, dann sind wir (zumindest vorläufig) berechtigt, diese Eigenschaften oder Entitäten für real zu halten.

Wenn wir die beiden Prämissen akzeptieren, kommen wir zu der folgenden Schlussfolgerung: Wir sind (zumindest vorläufig) berechtigt, die oben definierten Eigenschaften der klassisch-kompatibilistischen Willensfreiheit als reale Phänomene anzunehmen.

 

Dieses metatheoretische Argument ist vergleichbar mit dem naturalistischen Standardargument für Realismus in Bezug auf andere Eigenschaften oder Entitäten in der Wissenschaft. Physiker sind Realisten in Bezug auf Teilchen, Felder und Kräfte, weil deren Annahme für die besten physikalischen Theorien unabdingbar ist. Biologen neigen dazu, Realisten in Bezug auf Zellen, Organismen oder Ökosysteme zu sein. Und Psychologen sind Realisten in Bezug auf mentale Zustände und Prozesse, weil deren Postulierung für psychologische Erklärungen unverzichtbar ist. Die Argumente für Realismus in Bezug auf Willensfreiheit sind nicht anders als bei anderen Phänomenen auf höherer Ebene, deren Realität wir selten anzweifeln: z.B. das Wetter, Märkte, Volkswirtschaften usw. [List 2020, 8-9].

 

Abschliessend noch eine Bemerkung zum Kausalitätsbegriff. Wissenschaften der Makroebene – wie z.B. Computerwissenschaft, Wahrscheinlichkeitstheorie, Statistik oder eben die Psychologie – verwenden eine interventionistische Theorie der Kausalität [Woodward]. Eine interventionistische Kausalität liegt dann vor, wenn die (durch eine Intervention erzeugte) Veränderung der einen Variable, eine Veränderung der anderen Variable bewirkt. Wenn ich z.B. ein Glas Wasser trinken möchte, dann ist die Absicht zu trinken der Grund für die Bewegung der Hand zum Glas. Wenn die Absicht ändert, dann ändert auch die Bewegung. Auf der Mikroebene, wo unzählige Elemente interagieren, ist es schwierig, eine Entsprechung für dieses Phänomen zu finden. Falls es gelingt Muster zu erkennen, welche systematisch die Bewegung der Hand erklären, dann existiert auch hier eine Kausalbeziehung. Aber diese steht nicht in Widerspruch zur Kausalität auf der Makroebene, sie repräsentiert lediglich eine andere Perspektive [Musser].

 

 

Wer hat Recht?

Wer hat Recht? Der harte Determinismus oder der Kompatibilismus?

 

Fragen dieser Art sind wahrscheinlich so alt wie die Philosophie. Sie wurden jedenfalls schon im antiken Indien und Griechenland gestellt. Hier ein Beispiel aus dem 13.Jh. [Oxford]:

 

 

 

 

Es gibt einen Disput [der weitergehen wird]

bis die Menschheit von den Toten aufersteht,

zwischen den Necessitariern

und den Partisanen des freien Willens.

 

Dschalāl ad-Dīn Rumi

 

 

 

Die ursprüngliche Frage lautete (Ende von Kap.2.2):

Kann ein von physikalischen Gesetzen bestimmter Wille frei sein?

 

Diese Frage kann auf verschiedene Weise interpretiert werden:

1.     Interpretation der harten Deterministen: Gibt es eine (libertarische) Wahlfreiheit, welche unabhängig ist von den physikalischen Zuständen im Gehirn [Blackford]? Kann der Mensch die physikalischen Gesetze übersteuern? Die Antwort ist „Nein“. Aus dieser Sicht gibt es keine Willensfreiheit.

2.     Interpretation der Kompatibilisten: Können die Naturgesetze das Phänomen erklären, welches wir in der Innenperspektive als Willensfreiheit wahrnehmen (Kap.2.1) und welches u.a. von Evolutionstheoretikern untersucht wird (Kap.5.2)? Die Antwort ist „Ja“. Aus dieser Sicht gibt es eine Willensfreiheit.

Fazit: Solange man verschiedene Definitionen der Willensfreiheit verwendet, haben beide Recht.

 

Wir haben versucht den Unterschied zwischen dem harten Determinismus und dem Kompatibilismus als Resultat von verschiedenen Betrachtungsweisen des gleichen Phänomens darzustellen. Mit diesem Denkansatz geben sich aber längst nicht alle zufrieden. Die Debatte „wer Recht hat“ wird von zahlreichen Philosophen weitergeführt. Dabei geht es vor allem um die Frage, wer seine Sprache durchsetzen kann (Kap.7.2).

 

 

Verbreitung der Positionen

In einer 2009 durchgeführten Erhebung wurde der Verbreitungsgrad der Positionen zur Willensfreiheit unter Philosophen ermittelt (…). Von 931 teilnehmenden Philosophen wurden zur Frage „Freier Wille“ die Wahlmöglichkeiten „Ich akzeptiere“ oder „Ich neige zu“ wie folgt auf vier vorgegebene Positionen verteilt [Bourget, 15]:

 

Position

Prozent

Kompatibilismus

59,1

Libertarismus

13,7

Kein freier Wille

12,2

Andere

14,9

 

Der restliche Teil dieses Aufsatzes beschäftigt sich mit der Position, die von Philosophen am häufigsten vertreten wird, dem Kompatibilismus. Im Zentrum steht die Frage, wie weit die kompatibilistische Willensfreiheit durch externe und interne Faktoren eingeschränkt ist.

Konsens besteht darüber, dass viele Handlungen des Menschen durch seine Geschichte, die gesellschaftlichen Gegebenheiten, aber auch körperliche und psychologische Reaktionen auf unbewusste Sachverhalte (etwa hormonelle Zustände oder unbewusste Wahrnehmungen) verursacht sind (Verantwortung, Wikipedia).

 

 

 

6. Skeptizismus

 

 

6.1  Soziologie

 

 

Gefangenheit im Ideal und Befreiung

Das Streben danach, dem göttlichen Vorbild und seinen Anforderungen gerecht zu werden, steht einer freien Lebensgestaltung diametral entgegen. So sagt etwa Augustinus:

 

Wenn du dich selbst erbaust, wirst du eine Ruine erbauen.

 

Der idealisierende Humanismus übt eine ähnliche Funktion aus wie die Religion. Die Fixierung auf ein idealisiertes oder übermächtiges Wesen des Menschen verunmöglicht die Entwicklung eines individuellen Lebenssinnes und die Versöhnung mit den menschlichen Schwächen. Das humanistische Ideal ersetzt das religiöse Ideal. Einen ersten Schritt zur Befreiung von einem fixen Menschenbild und zu mehr Toleranz tat Erasmus von Rotterdam bereits im 16.Jh:

 

Höhepunkt des Glücks ist es, wenn der Mensch bereit ist, das zu sein, was er ist.

 

Eine Gegenbewegung zum idealisierenden Humanismus im 20. Jh. war die Existenzphilosophie. Begründet wurde sie von Kierkegaard, philosophisch analysiert von Heidegger und Jaspers, literarisch ausformuliert von Camus und Sartre.

Der Existentialismus ist eine besondere Ausdrucksform der französischen Existenzphilosophie. Im Kern des Existentialismus stehen die Schriften von Sartre, welche auf Ideen von Hegel, Heidegger und Husserl aufbauen [GAD, Strassberg]. Sartre wehrt sich gegen die Wesensbestimmung des Menschen durch Theorien und betrachtet die individuellen existentiellen Erfahrungen des Menschen als massgebend. Der Mensch ist nicht auf eine Ordnung bezogen, sondern schafft Ordnungen mit seinem Beispiel (L'être et le néant).Was aber heisst existentiell?

 

Was wirklich wichtig ist, findet der Mensch meist erst heraus, wenn er in eine kritische Situation gerät, durch Tod, Kampf, Leiden, Schuld ganz auf sich selbst zurückgeworfen wird. Was dann noch wichtig ist, ist existenziell, was hinfällig wird, ist überflüssig.

 

Der metaphysische Humanismus, jede Fixierung auf ein idealisiertes oder übermächtiges Wesen des Menschen, artet nach Sartre in Antihumanität aus. (…) Notwendig ist eine umfassende, negative, kritische Position, die gegen einfache und feste Menschen- und Weltbilder andenkt und anrennt, die auch das Unmenschliche aufrichtig in den Blick rückt. Die Epoche des (nur) positiven Humanismus, der Renaissance und der (optimistischen) Aufklärung ist zu Ende [Brinkemper]

 

Während die Existenz-Philosophie zur Befreiung von metaphysischen Idealen aufrief, entdeckte eine Gruppe von Linguisten, Psychologen, Soziologen und Anthropologen (später Strukturalisten genannt), dass metaphysische Ideale nur einen Spezialfall einer allgemeinen Form von Gefangenschaft darstellen.

 

 

Strukturalismus

Der Strukturalismus entstand aus dem Versuch, naturwissenschaftliche Methoden auf die Sprache anzuwenden. Die Beziehungen zwischen Sprach-Phänomenen sollten im gleichen Sinne untersucht werden, wie die Beziehungen zwischen Natur-Phänomenen. Hauptprinzip ist das Auffinden von Einsetzungs- und Ersetzungsregeln, d.h. eine Art Reduktionismus. Später wurde dieser Versuch auch auf andere geisteswissenschaftliche Bereiche ausgedehnt.

 

Levi-Strauss argumentiert, dass die Kultur wie eine Sprache sei: nur ein Aussenstehender könne die ihr zugrunde liegenden Regeln verstehen.

 

Dass das menschliche Denken durch die Sprache limitiert wird, ist offensichtlich. Wir denken in vorgegebenen Begriffen und Satz-Strukturen. „Der Mensch verhält sich so, als ob er der Schöpfer und Herr der Sprache sei, es ist aber ganz im Gegenteil die Sprache, die sein Gebieter ist und bleibt.“ (Heidegger). Wenn es eine Analogie gibt zwischen Sprache und Kultur, dann wird das Handeln im gleichen Sinne limitiert wie das Denken.

Das strukturalistische Weltbild wurde u.a. von folgenden Philosophen beeinflusst [GAD, Strassberg]:

-      Marx, welcher die Macht der ökonomischen Verhältnisse analysierte („Das Sein bestimmt das Bewusstsein“)

-      Freud, welcher die Macht des Über-Ichs analysierte (soziale Normen werden im Unbewussten verankert).

-      Nietzsche, welcher den Willen zur Macht analysierte („Wahrheit ist die Lüge, welche gewonnen hat“).

Nicht nur die Handlungen, auch die Reflexionen, welche hinter diesen Handlungen stehen und sogar die Fähigkeit zur Reflexion sind durch die Kultur bestimmt. Warum kann z.B. der eine der zwei Brüder in Poe’s Novelle Sturz in den Mahlstrom die Phänomene naturwissenschaftlich reflektieren und der andere nicht? Ein Strukturalist würde sagen, dass den beiden Brüdern verschiedene Rollen in der Gesellschaft zugewiesen wurden.

 

Eine Analyse ist struktural, wenn sie nicht von isolierten Phänomenen sondern von Beziehungen ausgeht. Ein einzelnes Element hat keine Bedeutung, nur die Beziehungen sind massgebend [GAD, Strassberg]:

-      Ausgangspunkt dieser Sichtweise war Freuds Hinweis, dass im Traum einzelne Elemente nicht von sich aus etwas bedeuten würden, sondern erst im Zusammenhang zu sprechen anfingen. Gemäss Lacan ist das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert.

-      Auch jedem kulturellen Gegenstand geht eine Ordnung voraus. Erst der Katalog macht die Bibliothek aus, die Nachbarschaft eines Buches definiert die Eigenschaften des Buches. Der Begriff Bedeutung entspricht dem Platz in der Landkarte der Nachbarschaften. Die Welt wird erst zugänglich, wenn wir uns in einem Symbolsystem (analog dem Bibliotheks-Katalog), d.h. in einer Sprache bewegen. Regeln und Gesetze (d.h. symbolische Ordnungen) prägen anschliessend die Wahrnehmung von Realität. Auch das Ich, die Gefühle, ergeben sich aus einem Netz von Verpflichtungen. Daraus folgt Foucaults These vom Tod des Subjekts, wie er sie in seinem Buch Die Ordnung der Dinge präsentierte

-      Man könnte die Lacan’sche Sichtweise auch umdrehen und sagen, dass die Sprache strukturiert ist wie das Unbewusste: „Es“ spricht [Wenk]. Das Unbewusste kommt entwicklungsgeschichtlich vor der Sprache. Die Beziehungen existieren zunächst im Unbewussten und werden nach und nach in ein Symbolsystem übersetzt. Die Welt wird jetzt auf eine andere Art zugänglich.

 

 

Gefangenheit in der Struktur und Befreiung [GAD, Strassberg].

1)    Was unterscheidet die Kultur von der Natur? Nach Levi-Strauss verlässt der Mensch dort die Natur, wo er über die Familie hinaus zu tauschen beginnt. Jetzt entwickeln sich Gesetze und bestimmte Rollen bzw. Funktionen in der Gesellschaft. Das Gesetz bestimmt die (richtigen) Gefühle und nicht umgekehrt. Gesetze definieren Beziehungen, welche sich aus der Natur der Dinge notwendig ergeben. Das Subjekt kann nur den ihm zugeordneten Platz in der Struktur einnehmen. Mit der Stellung in der Struktur sind auch seine Präferenzen bestimmt.

 

2)    Weshalb gibt es Strukturen? Strukturen müssen das Triebhafte binden und Machtverhältnisse festigen [Erdheim]. Historische Ereignisse werden zu diesem Zweck – z.B. in der Form von Mythen – zu einer Art Naturgesetz umgedeutet. Die Illusion, dass wir autonom handeln, verstellt uns den Blick, dass unsere Triebe in der Struktur gebunden sind. Die Illusion des Ich macht die Leute gefügig. Wer sich durch Reflexion ganz in die Struktur hineinbegibt, kann erkennen, wie das Ich aus kulturellen Beziehungen zusammengesetzt ist. Die Struktur wird transparent und die Illusion des Ich bricht zusammen. Nur aus dieser Position heraus ist ein Widerstand denkbar. Wie aber könnte dieser aussehen? Das, was ausserhalb der Struktur ist, kann nicht mit den Mitteln innerhalb der Struktur beschrieben werden.

 

3)    Es gibt aber trotzdem eine Sehnsucht, über die Struktur hinauszukommen. Diese Sehnsucht wurde von gewissen Strukturalisten mit einer angestrebten Herrschaft des Unbewussten in Verbindung gebracht. Wo Es war soll (wieder) Es werden (Lacan). Gemäss Lacan sind Strukturen immer instabil; es droht der Einbruch des Unbewussten bzw. (in der Terminologie von Lacan) der Einbruch des Realen.

a)     Ein Versuch, dem Leiden an der Struktur zu entfliehen besteht darin, die Nicht-Existenz des Ich und damit eine fremdbestimmte Rolle zu akzeptieren. Dies wurde von einigen Strukturalisten als mystischen Aufgehen in der Struktur bezeichnet und erinnert an das hinduistische Dharma.

b)    Ein anderer Versuch der Befreiung wäre das Schaffen einer individuellen Sprache (z.B. in der Psychoanalyse) oder das Eintauchen in eine fremde Kultur. Ein Strukturalist würde jedoch auch die Psychoanalyse als Teil des Systems betrachten und zudem postulieren, dass die fremde Kultur nur mit den Augen der eigenen Kultur gesehen werden kann. Kommt hinzu, dass die fremden bzw. wirklich alternativen Kulturen am Aussterben sind. Die Lebensweise der Jäger und Sammler kann z.B. in absehbarer Zeit nicht mehr nachvollzogen werden. Im Unterschied zur Existenzphilosophie nimmt der Strukturalismus vorwiegend einen deskriptiven Standpunkt ein.

c)     Aus normativer Sicht kann man versuchen, die individuelle Freiheit als Ziel der Struktur zu definieren. In einer liberalen Gesellschaft ist es einfacher, die Gefangenschaft in der Struktur zu akzeptieren. Aber Freiheit wird im Allgemeinen nicht geschenkt, sondern muss erkämpft und verteidigt werden.

 

 

 

6.2  Soziobiologie

 

 

Die biologische Nutzenfunktion

Da der Mensch ein biologisches Wesen ist, muss auch die biologische Nutzenfunktion in der Psyche prominent vertreten sein.  Das Streben nach Individualität, nach Selbstverwirklichung und Selbstbehauptung sind das Resultat eines biologischen Programms. Diese Aussage hat einen erkenntnistheoretischen Status, welcher nahe bei einem Naturgesetz liegt. Wir kommen mit einer beträchtlichen Zahl von natürlichen Wünschen auf die Welt (wie Beckermann sagt), aber diese Präferenzen sind letztlich dem biologischen Ziel (die DNA zu replizieren) untergeordnet.

Selbst dort, wo wir anderen nützen, wo wir uns also sozial oder altruistisch und damit moralisch hochwertig zu verhalten glauben, ist häufig nichts weiter als jener Gen-Egoismus am Werk. Daß wir anderen nützen und uns dabei vielleicht sogar selbst schaden, ist - wie die Soziobiologie zeigt - gar kein Widerspruch zur Darwinschen Lehre, sondern unter gewissen Bedingungen sogar deren unausweichliche Konsequenz [Vollmer 1994].

Beispiele: Aufopferung der Eltern für ihre Kinder, Verwandtenselektion.

 

 

 

 

Man traue keinem erhabenen Motiv,

wenn sich auch ein niedriges finden lässt.

 

Edward Gibbons

 

 

 

Die biologischen Strategien zur Vermehrung von Genen sind aber vielfältig und teilweise indirekt [Gräff] [Voland, 143]. Das bedeutet, dass die Psyche eines Menschen nicht zwangsläufig durch das biologische Ziel geprägt ist, viele Kinder zu haben. Das biologische Ziel kann beim Menschen derart durch kulturelle Normen überlagert werden, dass es nur noch im Unbewussten wirkt. Es gibt sogar Versuche, das Phänomen „Gewissen“ auf evolutionärer Basis herzuleiten [Mittwollen, 156-160].

 

Ob wir durch die biologische Nutzenfunktion manipuliert werden oder nicht ist eine Frage der Identifikation. Wer sich voll mit seiner biologischen Natur identifiziert, fühlt sich nicht durch biologische Bedürfnisse manipuliert. In einer Kultur, welche Sublimierung verlangt, kann umgekehrt das biologische Ziel zu einem Hindernis bei der Verfolgung von kulturellen Zielen werden.

 

 

Handeln gegen die Gemeinschafts-Interessen

Die traditionelle Verhaltensforschung war zwar durchaus schon überzeugt, daß "altruistisches" Verhalten biologisch-genetische Gründe haben könne und müsse. Sie nahm jedoch an, daß es nur über eine besondere Art von Selektion, über Gruppenselektion, erklärt werden könne: Tiere verhielten sich eben arterhaltend (…). Die Soziobiologie widerspricht. Gruppenselektion gibt es überhaupt nicht oder nur in Ausnahmefällen. Mit einem natürlichen Bedürfnis, für den Erhalt der Menschheit zu sorgen, ist auch beim Menschen nicht zu rechnen (…). Es ist deshalb überhaupt nicht verwunderlich, daß Appelle, wir sollten für die gesamte Menschheit etwas tun, so wenig fruchten [Vollmer 1994].

 

Das ökologische Verhalten liegt z.B. im Interesse der gesamten Menschheit, wird aber von unbewussten, aus der biologischen Evolution stammenden Mechanismen hintertrieben:

       Die biologische Evolution ist nicht bloss kurzsichtig, sondern absolut ziel- und zukunftsblind: Das Design der Organismen ist an einen „Wettlauf im Hier und Jetzt“ angepasst.

       Genetischer Reproduktionserfolg – das Mass aller Dinge – beruht zu einem wesentlichen Teil auf effizienter Ressourcenausnutzung.

Beides hat unserer Psyche den Stempel aufgedrückt und damit die Mentalität des Raubbaus kreiert [Voland, 145].

Marx hatte Recht in vielerlei Beziehungen, aber er überschätzte die Kräfte des gesellschaftlichen Bewusstseins und unterschätzte die Kräfte der Evolution. Dass diese Fehleinschätzung nicht nur das Konkurrenzverhalten betrifft, sondern auch das Verhältnis der Genossen zur Natur, illustriert die Umweltverschmutzung in der ehemaligen Sowjetunion.

 

 

Handeln gegen die eigenen Interessen

Der Mechanismus der egoistischen Gene wirkt nicht nur gegen die Interessen der Allgemeinheit, sondern auch gegen die eigenen Interessen. Obwohl wir wissen, dass Rauchen, salz- und fettreiche Ernährung, Bewegungsarmut usw. zu gesundheitlichen Risiken führen, fällt es erfahrungsgemäss schwer, entsprechende Gewohnheiten zu ändern. Gesundheitsapostel stossen in der Regel auf taube Ohren. Wovon hängt die Bereitschaft eines Organismus ab, jetzt geringe Kosten zu tragen, um höhere Kosten später zu vermeiden? Die Antwort ist verblüffend trivial: von der Wahrscheinlichkeit, dass der Organismus die späteren Zeiträume auch tatsächlich erlebt. Als Beispiel mag hier der Pleiotropie-Effekt dienen. Gene mit vorteilhaften Effekten in jungen Lebensjahren können sich auch dann in der Population ausbreiten, wenn sie mit deutlichen Nachteilen im Alter verbunden sind. In der Evolution wird der junge Körper auf Kosten des alten optimiert. Es lohnt sich im Mittel frühe Vorteile mit späten Nachteilen zu erkaufen. Die Verschuldungsmentalität, welche sich in Kreditkarten und Hypotheken ausdrückt, entspricht genau dieser Logik. Es gibt zwar ein generationenübergreifendes Interesse, aber dieses ist dynastischer und nicht allgemeiner Art [Voland, 146-148].

 

 

 

6.3  Verhaltens-Psychologie

 

 

Genetische Bestimmung

Die beste Methode, um die genetische Bestimmung des Verhaltens und damit das Mass der inneren Einschränkungen abzuschätzen ist die Zwillingsforschung. Erblichkeit wird oft missverstanden als der Anteil der Erbanlagen an der Ausprägung eines Merkmals bei einem bestimmten Menschen. Sie bestimmt aber den genetischen Anteil an den Unterschieden. Menschen unterscheiden sich, weil sie verschiedene Genvarianten tragen und weil sie in verschiedenen Umwelten leben. Eine Erblichkeit von z.B. 88 % für den Body-Mass-Index würde bedeuten, dass 88 % der Unterschiede des Body-Mass-Index in der Bevölkerung durch genetische Unterschiede bedingt sind, nicht aber, dass ein einzelner Mensch nur zu 12 % für sein Gewicht verantwortlich ist (siehe Zwillingsforschung, Wikipedia).

Das Temperament wird nach Strelau als überwiegend genetisch bestimmt, aber es muss unterschieden werden zwischen (gering veränderbarem) Temperament und dem Verhalten, in welchem das Temperament zum Ausdruck kommt, denn das Verhalten ist veränderbar.

 

 

Interaktions-Verhalten

In verschiedenen Analysen wurde versucht, die persönlichen Eigenarten bei Interaktionen auf wenige Hauptmerkmale zu reduzieren (Berkowitz). Dabei haben sich zwei Dimensionen und ihre Kombination als besonders klärend erwiesen [DTV, 213]:

1.     Die erste Dimension beschreibt in zwei Begriffen die Neigung zur Kommunikation: Affiliation und Detachment.

2.     Die zweite Dimension bezieht sich auf zwei Begriffe, die mit dem Zuordnungsverhältnis zu tun haben: Dominanz und Komplianz

Das Interaktions-Verhalten steht in Zusammenhang mit der Ausschüttung von biochemischen Konzentraten im Gehirn. Diese Ausschüttungen sind teilweise genetisch bestimmt:

-      Die Neigung zur Affiliation steht in Zusammenhang mit dem Neurotransmitter Dopamin.

-      Die Neigung zur Dominanz steht in Zusammenhang mit dem Steroidhormon Testosteron.

Die Einschränkung der persönlichen Freiheit durch biochemische Mechanismen wird bereits von Personalberatern, Karriereplanern und Marketing-Experten ausgewertet; siehe z.B. Brain-Script von H.Häusel (https://www.markenlexikon.com)

 

Trotz der biochemischen Steuerung von Gefühlen und Bewertungen besteht eine gewisse Freiheit bei der Wahl der Lebensziele

-      weil ein im präfrontalen Cortex beheimatetes System uns befähigt, aufsteigende Impulse zu bremsen, innezuhalten, abzuwägen und zu überlegen, was wir langfristig aus unserem Leben machen wollen [Bauer]:

-      weil die geistige und körperliche Beschäftigung mit einem Ziel auch wieder auf die Biochemie zurückwirkt.

 

 

 

 

Ein kleiner Indianerjunge unterhielt sich mit seinem Großvater:

„Wie denkst du über die Lage in der Welt?“ fragte er.

 

Der Großvater antwortete:

„Ich habe ein Gefühl, als kämpften Wölfe in meinem Herzen.
Einer ist voller Wut und Hass, der andere voller Liebe, Vergebung und Frieden.“


„Wer wird siegen?“
fragte der Junge.


Darauf antwortete ihm sein Großvater:

„Derjenige, den ich füttere.“

 

(Autor unbekannt)

 

 

 

 

 

Verhaltensstörungen

-      Viele Verhaltensstörungen im Jugend- und Erwachsenenalter werden mit genetisch bedingten, vorgeburtlichen oder frühkindlichen Störungen der sogenannten neuromodulatorischen Systeme im Gehirn in Verbindung gebracht. Diese Systeme sind der Entstehungsort neuronaler Botenstoffe wie Serotonin, Dopamin und Noradrenalin, die vom sogenannten Hirnstamm aus über ein sehr weitverzweigtes Netz von Nervenfasern in viele Bereiche des Gehirns verteilt werden und unsere psychische Befindlichkeit stark beeinflussen [Roth, 11].

-      Auch das kriminelle Verhalten ist genetisch beeinflusst, wobei jedoch in der Regel nicht ein spezifisches Verhalten, sondern ein Verhaltens-Stil vererbt wird. Selbst bei konkret definierten Störungen wirken Gene nicht deterministisch sondern erhöhen nur die Wahrscheinlichkeit des Auftretens [Nedoptil] [Rowe].

 

 

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Lövheim Cube of Emotion

 

 

Verkaufspsychologie

Die Übereinstimmung von Wollen und Tun erreicht man leichter, wenn Handlungsoptionen existieren. In der Verkaufspsychologie wird z.B. gelehrt, dem potentiellen Käufer immer Alternativen anzubieten, damit er das Gefühl hat, selbst entscheiden zu können. Dass die angebotenen Alternativen bereits vom Verkäufer vorselektioniert sind, wird vom Kunden meist nicht wahrgenommen. Für Kunden, „welche nie zufrieden sind“ muss man noch eine Strategie vorbereiten, bei welcher der Kunde alle Vorschläge ablehnen kann und selbst eine Lösung findet.

Offenbar hat Freiheit etwas mit Macht zu tun, Unfreiheit mit Machtlosigkeit. Macht kann sich auf andere beziehen oder auf das eigene Selbst.

-      Wer über keine Selbstkontrolle verfügt, ist seinen Leidenschaften machtlos ausgeliefert und wird unfrei.

-      Wer unter dem Einfluss anderer Menschen steht, wird auch unfrei, es sei denn er identifiziert sich mit ihnen oder sie kommen den eigenen Wünschen entgegen (wie z.B. im Verhältnis von Verkäufer und Kunde).

 

Die Handlungsoptionen müssen nicht unbedingt bewusst sein:

-      Das Gefühl der Willensfreiheit entsteht dann, wenn man sich als Agent der Denkvorgänge wahrnimmt, welche das Wollen und Tun aufeinander abstimmen.

-      Ein Gefühl der Freiheit entsteht aber auch dann, wenn Wollen und Tun unbewusst zur Deckung gebracht werden (und gleichzeitig Handlungsfreiheit besteht). Beispiel: Offenbar erleben viele Menschen in Warenhäusern ein befreiendes Gefühl, obwohl sie unbewusst manipuliert werden. Die Verkaufspsychologen und Marketingspezialisten erforschen, erraten und lenken die unbewussten Wünsche der Kundschaft.

 

 

 

Je pense – donc je suis

 

René Descartes

 

Je dépense – donc je suis

 

www.ledevoir.com

 

 

 

 

6.4  Psychoanalyse

 

 

Geschichte

Freuds Lehre pendelte zwischen Freiheit und Determinismus [GAD, Guggenheim]:

-      Die Psychoanalyse war zuerst durch die Traumdeutung, d.h. durch eine hermeneutische Methode geprägt. In der freien Assoziation versucht sich der Patient von der kausalen Denkweise zu lösen und „zufällige“ Gedanken zu akzeptieren, Gedanken die keinen „Grund“ haben, unlogisch erscheinen und (scheinbar) unvernünftig sind.

-      Die Triebtheorie ist ein Versuch, die Psychoanalyse auf eine naturwissenschaftliche Basis zu stellen, wobei man beachten muss, dass zu Freuds Zeiten naturwissenschaftliche Theorien immer auch deterministische Theorien waren. Freud war aber nicht konsequent in dieser Zielsetzung. Innerhalb der Triebtheorie findet man den Begriff des Triebschicksals welcher den Zufall betont und damit den Determinismus wieder untergräbt.

-      Das Freudsche Strukturmodell unterteilt die Psyche grob in drei Instanzen: Ich, Es und Über-Ich. Am Schluss der Theorieentwicklung steht die Metapher vom Reiter (Ich), dessen Pferd (Es) ab und zu den Gehorsam verweigert, d.h. eine Mischung aus Handlungsfreiheit und unbewusstem Zwang

 

 

Freiheit als Gefühl

Die Psychoanalyse hat wesentlich dazu beigetragen, das Gefühl der Freiheit besser zu verstehen. Es ist nämlich durchaus möglich, genau die gleiche Tätigkeit im Gefühl der Freiheit auszuführen und im Gefühl der Fremdbestimmung. Das Gefühl der Freiheit entsteht aus der Übereinstimmung von Wollen und Tun. Es kann auch dann entstehen, wenn man eine von aussen verlangte Tätigkeit ausübt, dann nämlich, wenn man sich mit der befehlenden Instanz identifiziert oder wenn das Verlangte dem (unbewusst) Erstrebten entgegenkommt. Das deutet darauf hin, dass die Wahrnehmung der Tätigkeit entscheidend ist und nicht die Tätigkeit selbst [Hampe 2006, 2].

Beispiel: Viele Musiker spielen, um Geld zu verdienen und fühlen sich unfrei wegen der Verpflichtungen. Aber andere fühlen sich frei trotz vieler Verpflichtungen, weil sie gerne Konzerte geben. Die Psychoanalyse beschäftigt sich u.a. mit der Frage, unter welchen Bedingungen das Fremdbestimmte als etwas Eigenes wahrgenommen wird. In unserem Beispiel kann eine gefühlsmässige Befreiung zwei völlig unterschiedliche Formen annehmen:

1.     Man verlässt die Welt der Musik, weil sie von aussen aufgezwungen wird.

2.     Man entdeckt das befreiende Potential der Musik.

 

Wer gegen den eigenen Charakter lebt (z.B. indem er Musik studiert, obwohl er keinen inneren Drang dazu verspürt) der wird langfristig mit einem Gefühl der Sinnlosigkeit bestraft. Durch die Reflexion von Gefühlen gewinnt man ein Stück gedankliche Freiheit, welche sich aber nicht sofort oder nicht dauerhaft in Handlungen umsetzen lässt. Auf der intellektuellen Ebene lassen sich Handlungsoptionen spielerisch erkunden – im obigen Beispiel erkennt der Musikschüler z.B. dass er spielt, um seinen Eltern zu gefallen, bzw. aus Angst sie zu enttäuschen – aber gefühlsmässige Befreiung ist ein mühsamer, langwieriger und oft auch schmerzhafter Prozess. Ein Patient muss sich zuerst im geschützten Rahmen der Analyse gegen seine eigenen emotionalen Widerstände (Über-Ich) durchsetzen und kann dann immer noch scheitern in der Lebenspraxis, wo dieser geschützte Rahmen wegfällt.

 

 

Freiheit als psychisches Gleichgewicht

Die Psychoanalyse hat gezeigt, dass es nicht nur Risiken der Leidenschaft gibt, sondern auch Risiken der Triebunterdrückung. Das Bestreben, alle Handlungen der Vernunft zu unterwerfen birgt die Gefahr, dass die Gefühle als Steuerungsinstrument des Handelns verdrängt werden. Aber zur Vernunft gehört auch, dass man den Gefühlen Raum lässt. Ein zu starkes Insistieren auf Idealen kann durch psychische und psychosomatische Krankheiten zu schwerem Leiden führen. Die Gefahr einer moralischen Überforderung wurde von den antiken Ethikern schon früh erkannt:

-      Im Hinduismus wird eine gewisse Ausgewogenheit der Lebensziele angestrebt, welche die biologischen Bedürfnisse der Menschen respektiert. Aus dem Wünschbaren (Idealen) entsteht durch die Praxis das Mögliche. Auch im Buddhismus (welcher aus dem Hinduismus entstanden ist) wird durch den sog. mittleren Weg ein psychisches Gleichgewicht angestrebt und zerstörerische Askese bewusst vermieden.

-      Das aristotelische (übergewichtete) Streben nach vernünftigem Tun – insbesondere das Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis – erfordert eine spezielle Konstitution. Bei Aristoteles wird die Problematik der moralischen Überforderung durch den seelischen Reinigungsprozess (Katharsis) angesprochen.

Das ethische Ideal der Ausgewogenheit zielt auf ein Gleichgewicht zwischen kulturellen und biologischen Interessen, in welchem sich beide Parteien kritisch gegenüberstehen. Ohne Meinungsvielfalt gibt es keine Freiheit, weder im politischen noch im individuellen Denken. Wenn wir die Psyche mit einem demokratischen Parlament vergleichen, dann würde das heissen, dass eine starke Opposition vorhanden sein muss, welche die Interessen (das Lobbying) hinter den Argumenten aufdeckt und Rationalisierungen entlarvt:

1.     Für Menschen, welche in einer kulturell homogenen Umgebung sozialisiert werden ist es schwierig, Rationalisierungen zu durchschauen. Das verfügbare Wissen und die Sprache sind bereits so konzipiert, dass Alternativen ausgeschlossen werden. Man muss zuerst erkennen, dass es Alternativen gibt und dass diese unterdrückt werden. Philosophische Therapie, welche von der Unterdrückung durch gesellschaftliche Normen befreit, steht in der Tradition von Nietzsche und Freud. Aus der Sicht der Unterdrückten spricht vieles dafür, Selbstverwirklichung zur moralischen Norm zu erheben, wie dies z.B. der moralische Perfektionismus von Stanley Cavell vorgibt. Die Erfahrung hat gezeigt, dass Psychoanalysen zu einer Expansion der Wünsche und Geltungsansprüche beitragen und innere Konflikte in äussere verwandeln. Neurotisch gebundene Energie wird befreit und die Aggression nach aussen gelenkt. Passivität wird tendenziell zu Aktivität und Angepasstheit zu Rebellion. Psychoanalyse schafft die Voraussetzungen für eine wirksame Opposition gegen verkrustete oder totalitäre Gesellschaftssysteme (und ist konsequenterweise in solchen Systemen verboten).

2.     Die Befreiung der biologischen Kräfte von ihrer neurotischen Verzerrung hat aber auch eine Kehrseite. Die Denkfreiheit wird jetzt nicht mehr durch ein totalitäres (Glaubens-)system bedroht, sondern durch die biologischen Kräfte. Wer leidenschaftlich lebt, kommt nicht mehr zum Nachdenken. Wer die Gesetze selbst schafft, bedroht die Freiheit der anderen. An einem gewissen Punkt wird die Vernunft selbst als unterdrückende Instanz empfunden und der Weg zu einer rationalen Kooperation verschlossen. Damit stossen wir auf den Konflikt zwischen Selbstverwirklichung und Gerechtigkeit. Die biologischen Kräfte wirken wie ein totalitäres System, welches keine Alternativen zulässt. In Kulturen, welche unter strengen moralischen Vorschriften leiden geht oft vergessen, dass die Abwesenheit von Moral zu einer Tyrannei der Stärkeren führt oder zu einem Chaos von Konflikten. Es ist die Erfahrung von Tyrannei und Chaos, welche die Vorteile der Moralität bewusst macht. Als Beispiel dienen hier hellenistische Ethiken, welche zu mehr Selbstkontrolle und Verzicht raten.

Fazit: Innere Freiheit ist verknüpft mit emotionaler Freiheit. Es ist ein fragiles Gleichgewicht zwischen den Forderungen der Aussenwelt (zum Teil in einer internalisierten Form) und den Forderungen der eigenen (biologischen) Natur.

 

 

 

6.5  Hirnforschung

 

Bei der Definition der Willensfreiheit in Kap.2 wurde nicht explizit gesagt, aber angenommen, dass die Entscheidungsprozesse bewusst ablaufen. Was aber ist Bewusstsein?

 

 

Physikalische Grundlage des Bewusstseins

-      Menschliches Bewusstsein ist gefilterte Information. Es ist nur der Schatten von etwas physikalisch viel Reicherem und Grösserem und hat keine unabhängige Existenz [Metzinger 2009, 41].

-      Für spezifische Formen von Bewusstseinsinhalten sind neuronale Korrelate bekannt. Es ist jedoch unklar, wie weit die Entdeckung solcher Korrelate das Phänomen Bewusstsein erklären kann. [Metzinger 2009, 37]

-      Untersuchungen zeigen, dass bei bewusster Wahrnehmung von Sinneseindrücken (Stimuli) weit verteilte Regionen der Grosshirnrinde vorübergehend exakt synchronisierte Hochfrequenz-Oszillationen aufweisen. Wenn die Stimuli nicht bewusst wahrgenommen werden, dann lassen sich zwar ebenfalls Hochfrequenz-Oszillationen nachweisen, die sich aber nicht zu synchronisierten Mustern verbinden [Metzinger 2009, 105].

-      Massgebend für das Bewusstsein sind nicht neuronale Eigenschaften, sondern räumlich-zeitliche Eigenschaften der Hirnprozesse [Northoff].

 

 

Funktionalität des Bewusstseins

Eine Hauptfunktion des Bewusstseins besteht darin einen festen Bezugsrahmen für den Organismus zu schaffen, d.h. zu definieren was real ist [Metzinger, 95]. Die Repräsentationen der Realität im Gehirn werden aber als Realität und nicht als Repräsentation wahrgenommen [Metzinger 2009, 72].

Die meistdiskutierten Theorien des Bewusstseins sind die folgenden [Seth, 46]:

 

-      Global workspace theory

Bewusstsein hat die Funktion eines Arbeitsspeichers. Es ist die Teilmenge der gerade im Gehirn aktiven Informationen, welche eine ständige Überwachung erfordert, weil sie nächstens benötigt werden könnte. Diese These wird gestützt durch die Beobachtung, dass uns eine Tätigkeit immer dann bewusst ist, wenn wir sie zum ersten Mal erlernen (z.B. das Binden von Schuhen oder das Fahrradfahren). Sobald wir jedoch die Tätigkeit vollständig beherrschen, vergessen wir alles, was mit dem Lernvorgang zu tun hat [Metzinger 2009, 89].

 

-      Attention schema theory

Jede gute Kontrolle eines komplexen Systems erfordert ein Modell. Das Gehirn verfügt z.B. über ein Körperschema, um die Extremitäten zu kontrollieren. In gleichem Sinne benötigt das Gehirn ein vereinfachtes Modell (ohne Details wie Neuronen, Synapsen und Signale) um die Aufmerksamkeit zu kontrollieren. Introspektion ist die interne Wahrnehmung/Beschreibung dieses Modelles [Graziano].

 

-      Integrated information theory

In dieser Theorie wird vermutet, dass das Bewusstsein eines Systems (die subjektive Wahrnehmung) mit seinen objektiven, kausalen Eigenschaften identisch ist.

 

-      Higher-order theories of consciousness

Diese Theorien postulieren, dass das phänomenale Bewusstsein eine Repräsentation höherer Ordnung von Wahrnehmungsinhalten (z.B. visuellen Bildern) ist.

 

 

 

Theorien über das Bewusstsein sind wie Zahnbürsten.

Jeder hat eine und keiner will diejenige des anderen verwenden.

 

(Autor unbekannt)

 

 

 

Das Libet-Experiment

-      Betrachten wir zunächst die Etymologie des Begriffes Bewusstsein: Der lateinische Begriff der conscientia ist die Wurzel, aus der sich alle späteren Terminologien in den englischen und romanischen Sprachen entwickelt haben. Er leitet sich seinerseits von cum (mit, zusammen) und scire (wissen) ab. In der Antike, genau wie in der scholastischen Philosophie des Mittelalters, bezog sich conscientia vorwiegend auf moralisches Wissen, d.h. Wissen über Werte. Interessanterweise wurde „echtes“ Bewusstsein also mit moralischer Einsicht verknüpft [Metzinger 2009, 45]. Moralische Einsicht ist das Resultat von Reflexionen, welche Präferenzen hinterfragen, gewichten und gegeneinander abwägen, d.h. das Resultat von Reflexionen höherer Ordnung. Dass das Abwägen von Präferenzen ohne Einsicht (Bewusstsein) ablaufen könnte, wurde traditionell gar nicht in Erwägung gezogen.

-      Mit zunehmender Akzeptanz der Psychoanalyse änderte sich dieses Bild. Die Existenz unbewusster Entscheidungsprozesse wurde nun zumindest als vertretbare These betrachtet. Die gleichzeitige Existenz von bewussten Entscheidungsprozessen schien aber offensichtlich und wurde von niemandem bestritten.

-      Erst in der Folge des Libet-Experimentes entstand die Vermutung, dass alle Entscheidungsprozesse unbewusst ablaufen könnten und dass das Bewusstsein nur ein etwas verspätet eintreffendes Begleit-Phänomen darstellt. Die spezifische Hirnaktivität, welche mit einer Bewegung korreliert, kann der bewussten Entscheidung (die Bewegung auszuführen) bis zu 10 Sekunden vorausgehen.

 

 

 

Chief Witch:

“Yes, that’s right!”

Macbeth:

“I understand you can foretell the future?”

 

Shakespeare

 

 

 

Im Libet-Experiment hat die bewusste Wahrnehmung keine steuernde Funktion, sondern ist nur ein (mehr oder weniger genaues und verspätetes) Abbild des unbewussten Prozesses. Aber kann man diesen Befund verallgemeinern?

 

 

Kritik am Libet Experiment

Die Frage, ob die Bewegung einer Hand etwas über den freien Willen einer Person aussagt, muss vorsichtig diskutiert werden. Denn die für die Handbewegung notwendigen Fertigkeiten sind im prozeduralen Teil des Langzeit-Gedächtnisses enthalten. Wenn wir aber eine freie und moralisch fundierte Willensentscheidung treffen wollen, dann nutzen wir die Erfahrungen und das Wissen des episodischen Teils des Langzeit-Gedächtnisses. Libets Experiment kann daher nur Aussagen über Entscheidungen machen, welche wie die Handbewegungen nicht moralisch gewertet werden müssen. Eine ausführliche und differenzierte Betrachtung dieses Problems nehmen Prof. Dr. Benedikt Grothe und Prof. Dr. Martin Korte in ihren Vorlesungen an der Ludwig-Maximilians-Universität München bzw. Universität Tübingen vor, die als Videoaufzeichnungen öffentlich zugänglich sind (Freier Wille, Wikipedia).

 

Neuere Experimente haben gezeigt, dass die spezifische Hirnaktivität, welche mit einer Bewegung korreliert und der bewussten Entscheidung (die Bewegung auszuführen) vorausgeht, nicht bedeutet, dass das Hirn die Bewegung vorausplant. In einem dieser Experimente konnten die Teilnehmer frei entscheiden eine Taste zu drücken (oder auch nicht), wenn sie einen Ton hörten. Es zeigte sich, dass die spezifische Hirnaktivität unabhängig von der Entscheidung vorhanden war und einer nach aussen gerichteten Aufmerksamkeit entsprach. Im Libet-Experiment ist die Aufmerksamkeit nach innen gerichtet. Es wird vermutet, dass die Entscheidung (die Bewegung auszuführen) dann ausgelöst wird, wenn (permanent vorhandene) Zufallsschwankungen im zuständigen Hirnareal einen gewissen Wert überschreiten [Ananthaswamy]. In einer anderen modifizierten Version von Libets Experiment zeigten Teilnehmer ein Bereitschaftspotenzial, auch wenn sie die Entscheidung trafen, sich nicht zu bewegen [Taylor]. Neuere Theorien auf der Grundlage des Free Energy Principle erklären im Detail, wie bewusste Wahrnehmungen über Bereitschaftspotentiale eine Handlung auslösen können [Safron].

 

Eine völlig andere Kritik am Libet-Experiment geht davon aus, dass Entscheidungen möglicherweise auf einer intuitiven, impulsiven Ebene getroffen werden. Warum sollte der Wille nicht mit tieferen, weniger bewussten Bereichen unseres Geistes verbunden sein, welche immer noch ein Teil unseres Selbst sind? Wenn das zutrifft, dann sagt das Experiment überhaupt nichts über die Funktion des Bewusstseins aus [Taylor].

 

 

Weitere Experimente

Alvaro Pascual-Leone führte 1992 ein Experiment durch, bei dem die Probanden gebeten wurden, zufällig die rechte oder die linke Hand zu bewegen. Er fand heraus, dass durch die Stimulation der verschiedenen Hirnhälften mittels magnetischer Felder die Wahl der Person stark beeinflusst werden konnte. Normalerweise wählen Rechtshänder die rechte Hand in ca. 60 % aller Fälle. Wurde jedoch die rechte Hirnhälfte stimuliert, wurde die linke Hand in 80 % aller Fälle ausgewählt (die rechte Hemisphäre des Hirns ist im Wesentlichen für die linke Körperhälfte zuständig und umgekehrt).

Trotz dieses nachweislichen Einflusses von außen berichteten die Probanden weiterhin, dass sie der Überzeugung waren, die Wahl frei getroffen zu haben (Freier Wille, Wikipedia).

 

Wolf Singer weist auf folgendes Experiment hin: Gibt man der nichtsprachlichen Hirnhälfte eines Probanden einen Befehl durch eine elektrische Reizung motorischer Cortex Areale, dann führt die Person diesen aus, ohne sich der Verursachung bewusst zu werden. Fragt man dann nach dem Grund für die Aktion, erhält man eine vernünftige Begründung, die aber mit der eigentlichen Ursache nichts zu tun hat (Philosophie und Hirnforschung, Patrick Albertini).

Was immer das Bewusstsein des eigenen Willens noch sein mag, es scheint auf jeden Fall etwas zu sein, das man mit Hilfe eines schwachen elektrischen Stromes und einer Elektrode im Gehirn an- und ausschalten kann [Metzinger 2009, 181].

 

 

Vorgetäuschte Realitäten

Um Entscheidungsprozesse zu verbessern, müsste das Bewusstsein die Realität unvoreingenommen repräsentieren. Aber die traditionelle Annahme, dass uns die Inhalte unseres phänomenalen Bewusstseins direkt und unmittelbar gegeben sind, ist falsch. Das Bewusstsein bezieht sich auf Repräsentationen und nicht auf die Realität selbst, so dass eine Realität vorgetäuscht werden kann. Beispiele:

-      Die Simulation virtueller Realitäten (z. B. in 3D-Filmen) erzeugt ein Gefühl von Präsenz und vollständigem Eintauchen. Wie in Träumen wird dadurch verhindert, dass reales körperliches Verhalten erzeugt wird. Wenn im Traum diese motorische Hemmung versagt (REM-Sleep Behavior Disorder), dann ist der Patient gezwungen, auch dramatische und gewalttätige Träume auszuagieren.

-      Das Phänomen des Klartraumes zeigt, dass das Gefühl in der Realität zu sein ein- und ausgeschaltet werden kann. Das Traum-Selbst ist wie der asognostische Patient, dem die Einsicht in mentale Defizite nach einer Hirnverletzung fehlt. Es gibt z.B. Menschen mit einer Schädigung der rechten Hirnhemisphäre und einer Lähmung des linken Armes, welche die Lähmung leugnen und Ausreden erfinden, wann immer sie gefragt werden, warum sie ihren Arm nicht bewegen können. Offensichtlich ist die Lebendigkeit, Klarheit und Prägnanz einer bewussten Erfahrung kein ausreichender Beweis dafür, dass man sich tatsächlich in der Realität befindet.

-      Der Traum ist ein gutes Beispiel für die Tendenz unseres Gehirns, Bedeutung zu konstruieren. Während des REM-Schlafs werden chaotische interne Signale durch PGO-Wellen erzeugt. Das Gehirn versucht, diese Signale zu interpretieren und konstruiert zu diesem Zweck ein Märchen, in dem das Ich des Traumzustandes die Hauptrolle spielt. Das System erkennt die Signale, die es in eine innere Erzählung umwandelt, nicht als seine eigenen Produkte [Metzinger 2009, 197-202].

Dies wirft die Frage auf, ob die evolutionäre Bedeutung des Bewusstseins nicht generell auf der emotionalen Ebene zu suchen ist [Metzinger 2009, 88]:

-      Wichtige Entscheidungen erhalten durch das Bewusstsein eine emotionale Verstärkung und werden dann möglicherweise dauerhafter gespeichert. Damit kann die Qualität zukünftiger Entscheidungen verbessert werden.

-      Umgekehrt werden z.B. Trauminhalte nach dem Aufwachen oft sehr schnell vergessen. Sobald die Traumwelt als Täuschung erkannt ist, werden die damit verbundenen Gefühle abgewertet und die Information entsorgt.

John-Dylan Haynes vergleicht den bewussten Verstand mit einem Scheinwerfer. Das Unterbewusstsein entscheidet, ob es das Licht einschaltet und wohin es den Strahl lenkt [Douglas, 32]. Die beleuchtete Szene wird dokumentiert und erhält eine gewisse Priorität im Gedächtnis; der Rest bleibt im Dunkeln.

 

 

Psychische Krankheiten

Beim sog. Alien-Hand-Syndrom, unterliegt eine der beiden Hände nicht mehr der willentlichen Steuerung, führt aber zielgerichtete Handlungen aus (wie etwas das Ziehen eines Steines im Damespiel). Die betreffenden Personen erleben die unkontrollierte Hand immer noch als ihre eigene. Was fehlt ist die Wahrnehmung eines Willensaktes. Es scheint unbewusste Mechanismen zu geben, welche festlegen, wann uns eine Bewegung als Willensakt erscheint [Metzinger 2009, 172].

Auch bei diesem Beispiel kann man argumentieren, dass es sich nicht um moralische Entscheidungsprozesse handelt und die Aussagekraft für das Problem der Willensfreiheit entsprechend limitiert ist. Es gibt allerdings Störungen, welche sich nicht nur auf die Bewegung einer Hand beziehen und wo möglicherweise das semantische Gedächtnis (ein Teil des deklarativen Langzeit-Gedächtnisses) mitbeteiligt ist [Metzinger 2009, 173]:

-      Gewisse Patienten erleben jedes bewusst wahrgenommene Ereignis in ihrer Umgebung als direkt durch sie selbst verursacht.

-      Umgekehrt haben gewisse Schizophrenie das Gefühl, dass der eigene Körper und die Gedanken ferngesteuert sind.

Im Vergleich mit gesunden Personen stimmt die Wahrnehmung des Willens noch viel weniger mit der realen Situation überein. Im ersteren Fall wird ein Übermass an Wirkung vorgetäuscht im letzteren Fall (in einer Art Umkehrsituation) ein völliges Ausgeliefertsein. Alles spricht dafür, dass es sich bei der Wahrnehmung der Willens um eine eigenständige Funktion handelt, welche mehr oder weniger korrekt mit der realen Situation gekoppelt wird. Es ist deshalb theoretisch denkbar, dass diese Funktion bei allen Entscheidungsprozessen mit etwas Verzögerung aufgerufen wird und eine Illusion erzeugt.

Beim akinetischen Mutismus fällt der Patient keine Entscheidungen [Metzinger 2009, 179]. Es besteht entsprechend kein Anlass, die Funktion „Wahrnehmung des Willens“ zu aktivieren. Die Wahrnehmung „Nichts zu wollen“ stimmt mit der realen Situation überein.

 

Gemäss Wegner und Wheatley wird das phänomenale Erleben des Willens oder der mentalen Verursachung durch folgende drei Prinzipien beherrscht [Wegner & Wheatley]:

1.     Ausschliesslichkeit: der Gedanke der Versuchsperson ist die einzig mögliche und introspektiv verfügbare Ursache der Handlung

2.     Konsistenz: die subjektive Absicht muss inhaltlich zur Handlung passen

3.     Priorität: der bewusste Gedanke muss der Handlung innerhalb eines angemessenen Zeitraumes vorangehen.

[Metzinger 2009, 183]

 

Wegner fasst das Resultat seiner Forschungen wie folgt zusammen:

Die Idee, dass der bewusste Wille eine Illusion ist, wird durch eine Reihe von Experimenten und Fallbeispielen gestützt. Menschen empfinden einen Willen für Handlungen, die sie nicht verursacht haben, und können (umgekehrt) keinen Willen für Handlungen empfinden, die sie eindeutig verursacht haben. Die grundsätzliche Abkopplung des Gefühls vom Tun legt nahe, dass das Gefühl des bewussten Willens nicht von den gleichen Mechanismen ausgeht, welche die Handlung verursachen. [Wegner 2004]

Wegners Forschungen bestätigen, dass das Bewusstsein in gewissen Fällen nur ein Epiphänomen ist. Der bewusste Wille ist ein Spezialfall innerhalb der bewussten Wahrnehmungen.

 

 

Gedankenwandern

Eines der spannendsten Forschungsgebiete der Neurowissenschaften und der experimentellen Psychologie ist das Gedankenwandern - das Studium spontaner und aufgabenunabhängiger Gedanken.

 

Stellen Sie sich vor, Sie stehen auf dem Bug eines Segelbootes und beobachten eine Gruppe von Delfinen, die nach links und rechts springen. Auf langen Strecken spart das Springen Energie, weil die Reibung in der Luft geringer ist als im Wasser darunter. Es scheint auch eine effiziente Möglichkeit zu sein, sich schnell zu bewegen und gleichzeitig zu atmen. Typischerweise wechseln sich lange, ballistische Sprünge mit Schwimmbewegungen unter Wasser für etwa die doppelte Länge des Sprungs ab - ein spektakuläres, schnelles, Schauspiel. Diese Akrobatik ist eine fruchtbare Metapher für das, was passiert, wenn wir denken. Was die meisten von uns immer noch "bewusste Gedanken" nennen, ist vergleichbar mit „geistigen Delphinen“, die für kurze Zeit aus dem Ozean unseres Unbewussten springen, bevor sie wieder untertauchen. Dieses "Delphin-Modell der Erkenntnis" hilft uns, die Grenzen unseres Bewusstseins zu verstehen. Die Zeitfenster, in denen sich diese Sprünge ins Bewusstsein entfalten, sowie die anschließende "Unterwasser"-Verarbeitung, sind sehr unterschiedlich. Und ähnlich wie Delphine die Wasseroberfläche durchbrechen, überschreiten Gedanken oft die Grenze zwischen bewusster und unbewusster Verarbeitung, und zwar in beide Richtungen. Manchmal sind einzelne Delphine so nah an der Oberfläche, dass sie halb im und halb über dem Wasser sein können; man könnte sogar lernen, sie zu erkennen, bevor sie springen, genauso wie man lernen kann, subtile, halbbewusste Muster zu erkennen, bevor sie sich als ausgewachsene Gedanken und Gefühle manifestieren. Vielleicht gibt es sogar mehr als einen Delphin: aller Wahrscheinlichkeit nach gibt es ein ganzes Rennen zwischen unseren Gedanken, einen ständigen inneren Wettbewerb um den Fokus der Aufmerksamkeit und um das, was schließlich die Kontrolle über unser Verhalten ergreift [Metzinger 2018].

 

Die mentalen Inhalte, die uns durch Introspektion zur Verfügung stehen, sind nichts anderes sind als eine Momentaufnahme der automatischen kognitiven Verarbeitung, die meistens unter den Wellen unseres Bewusstseins verschwindet. Das wirft eine seltsame Frage auf: Wer ist das "Wir", das am Bug steht und diese Delfin-Gedanken vorbeiziehen sieht? Erkenntnistheoretiker nehmen oft an, dass zielorientiertes, rationales Denken der paradigmatische Fall bewusster Erkenntnis ist. Aber wenn wir uns immer nur teilweise bewusst sind, was in unserem eigenen Geist geschieht, können wir unsere Gedanken dann absolut beherrschen, geschweige denn verursachen? Ist es jemals möglich, mentale Handlungen, die wir steuern und auswählen können, von der allgemeineren Kategorie der mentalen Ereignisse zu unterscheiden, die uns einfach passieren? In welchem Sinne sind wir jemals wirklich geistige Agenten, die in der Lage sind, frei zu handeln, anstatt von Kräften, die sich unserer Kontrolle entziehen, manipuliert zu werden? [Metzinger 2018]

 

 

Zusammenfassung

1.     Es ist plausibel, dass der Wechsel vom Gedankenwandern oder routinemässigen Handeln zum konzentrierten Denken (und zurück) nicht nur durch Änderungen in der Umgebung, sondern auch durch unbewusste Prozesse gesteuert wird. Das macht durchaus Sinn, weil konzentriertes Denken mehr Energie verbraucht und der Energiehaushalt zu den Aufgaben des Unbewussten gehört. Konzentriertes Denken funktioniert wie ein Laser, bei welchem durch Zuführen von Energie eine stark fokussierte Lichtquelle entsteht.

2.     Es ist ebenso plausibel, dass Bewusstsein in gewissen Fällen nur ein Epiphänomen ist und den Vorgang unvollständig dokumentiert. Auch das ist möglicherweise eine Frage der Effizienz und damit des Energiehaushaltes. Das schliesst aber nicht aus, dass das Bewusstsein bei komplexeren Entscheidungen und Reflexionen höherer Ordnung in Echtzeit beteiligt ist. Es schliesst insbesondere nicht aus, dass die Menschen ihre Willensfreiheit durch Reflexion gezielt erweitern [Bieri].

3.     Der bewusste Wille ist ein Spezialfall innerhalb der bewussten Wahrnehmungen. Nach dem aktuellen Stand des Wissens handelt es sich bei der Wahrnehmung des Willens um eine eigenständige Funktion, welche nicht immer mit der realen Situation übereinstimmt. Das schliesst aber nicht aus, dass diese Funktion im Normalfall korrekt mit der Realität gekoppelt ist [Ainslie][Caouette][List 2020, 7].

Was gewisse Experimente zur Wahrnehmung des Willens zeigen, ist, dass man sich – ebenso wie bei der Sinneswahrnehmung – auch bei der Begründung eigener Handlungen täuschen kann. Es folgt mitnichten, dass jede Handlungsbegründung fiktiv ist – ebenso wenig, wie aus der Möglichkeit von Sinnestäuschungen die grundsätzliche Irrigkeit aller Sinneswahrnehmungen folgt [Hucklenbroich, 13].

 

 

 

7. Verantwortung

 

 

7.1  Definition

 

 

Verantwortung

Verantwortung setzt Willensfreiheit voraus. Man kann nur für etwas verantwortlich gemacht werden, worüber man frei entscheiden kann. Weil die Existenz der Willensfreiheit umstritten ist, unterscheiden sich auch die Positionen zur Verantwortung:

-      Für die harten Deterministen gibt es überhaupt keine Verantwortung.

-      Auch für Kognitionswissenschaftler wie die Hirnforscher Gerhard Roth und Wolf Singer oder den Psychologen Wolfgang Prinz gibt es keine Verantwortung. Diese Wissenschaftler stellen die Schuldfähigkeit und damit das Strafrecht in Frage [Hucklenbroich, 5].

-      Libertarier und Kompatibilisten bejahen sowohl die Willensfreiheit als auch die Verantwortung. Für sie besteht das Hauptproblem darin, das moralische Gewicht der unbewussten Motive richtig einzuschätzen [Koch].

(Verantwortung, Wikipedia).

 

 

Verantwortung, welche unbewusste Motive einschliesst

Im Unbewussten stecken persönliche Erfahrungen und Bewertungen und man kann sie deshalb auch als Teil des Selbst betrachten. Dass man positive Leistungen des Unbewussten (z.B. die Fähigkeit im Schlaf Probleme zu lösen) der eigenen Person gutschreiben darf, wird nicht bestritten. Warum sollte das nicht auch für negative Leistungen gelten? Sowohl die Abgrenzung zwischen Ich und Es als auch die Abgrenzung zwischen Entscheidungsanfang und –ende ist unscharf. Es gibt keine punktuellen Entscheidungen. Im Allgemeinen kommt eine Mischung aus bewusster aktueller Reflexion und unbewussten, langfristig entstandenen Motiven zur Anwendung. Man ist in einem gewissen Masse determiniert durch seine Geschichte, aber man ist auch mitverantwortlich für diese Geschichte [GAD, Hampe].

 

Beispiel: Bei einem Penalty muss ein Fussball-Torhüter blitzartig entscheiden, ob er stehen bleiben oder in eine Ecke hechten soll. Wegen der Knappheit der Zeit wird die Entscheidung im Wesentlichen im Unbewussten getroffen. Dabei werden sehr viele Informationen (Bewegung des Schützen, Erfahrungen, Tipps etc.) in einem individuellen Entscheidungsprozess verarbeitet. Der Torhüter ist verantwortlich für seine Entscheidung, obwohl ein grosser Teil der Bewertungen im Unbewussten erfolgt. Die Verantwortung wird akzeptiert, weil die unbewussten Bewertungen das Resultat einer langen, persönlich geprägten Geschichte sind. Zu dieser Geschichte gehört insbesondere das Antrainieren von Fussball-spezifischen Reflexen.

 

 

Verantwortung, welche unbewusste Motive ausschliesst

In einem engeren Sinne liegt Verantwortung nur dann vor, wenn die Entscheidung durch bewusstes Abwägen von Präferenzen getroffen wird. Für unbewusste Motive, welche diese Abwägung beeinflussen, ist der Entscheidungsträger nicht verantwortlich.

Motive sind wiederkehrende Präferenzen für bestimmte Ziele [Schönbrodt].

In diesem Falle ist massgebend, wie weit der Einfluss des Unbewussten reicht.

-      Soziologische, soziobiologische und psychologische Forschungsresultate legen nahe, dass die Bedeutung des Unterbewussten unterschätzt wird (Kap.6.1 bis 6.4).

-      Eine fast unbeschränkte Macht des Unbewussten wird durch die Hirnforschung postuliert (Kap.6.5). Manche Hirnforscher gehen davon aus, dass das Bewusstsein nur ein Epiphänomen ist und alle Bewertungen durch unbewusste Prozesse zustande kommen. Das Gefühl, frei entscheiden zu können und nicht von physikalischen Prozessen determiniert zu sein, ist möglicherweise eine Funktion des Gehirns, welche je nach Situation ein- oder ausgeschaltet werden kann. Wenn aber beim bewussten Abwägen von Präferenzen eine Täuschung vorliegt, dann kann überhaupt nicht von Verantwortung gesprochen werden.

 

Beispiel: Die Entscheidung eines Torhüters zu trainieren und sich damit Fussball-spezifische Reflexe anzueignen würde nicht (der Wahrnehmung entsprechend) durch bewusste Reflexion entschieden, sondern (entgegen der Wahrnehmung) unbewusst. Die Reflexion würde nur nachträglich im Bewusstsein mehr oder weniger genau dokumentiert. Möglicherweise wird sogar nach Freud’schen Kriterien dokumentiert, d.h. Tatsachen werden verzerrt oder unterschlagen, um unbewussten Wünschen entgegenzukommen. Die steuernde Rolle des Bewusstseins bei der Entscheidungsfindung ist Gegenstand einer kontroversen Diskussion (siehe Epiphänomen, Wikipedia).

 

 

 

7.2  Semantik

 

 

Tradition

Selbst wenn die Hirnforscher Recht behalten sollten, so brauchen wir doch im Alltag und in der Rechtsprechung immer noch den Verantwortungsbegriff, welcher unbewusste Motive einschliesst.

-      Wenn eine Person sagt, dass sie frei und bewusst entschieden habe, dann sollten wir diese Sprachregelung akzeptieren, weil wir wissen, was sie damit meint. Es ist eine Intuition, die wir alle kennen [Bieri, 222-226]

-      Nach gängiger Gerichtspraxis ist eine (voll zurechnungsfähige) Person für ihre unbewussten Entscheidungsprozesse verantwortlich.

 

Die Frage, ob wir menschliches Handeln unter Zuhilfenahme von Gründen und Rechtfertigungen betrachten oder es als Naturereignis mit Naturgesetzen erklären, ist eine grundlegende (…). Denn bei ihr geht es um die Frage, ob wir überhaupt eine Sprache zulassen, in der es so etwas wie (selbstverantwortete) Handlungen gibt. Sobald wir etwas mit Naturgesetzen erklären wollen, hört es auf eine (selbstverantwortete) Handlung zu sein [Hampe 2007, 177].

 

Es dürfte schwierig sein, eine Gesellschaft zu organisieren ohne den Begriff Verantwortung und ohne Berücksichtigung der Gründe und Rechtfertigungen, welche sich aus der Innenperspektive ergeben. Der Begriff Schuld wird vielleicht aus der Sprache der Gerichte verschwinden, aber nicht aus der Alltagssprache [Singer] [Pauen].

 

Peter Strawson, hielt es nicht für notwendig, die Frage des Determinismus zu entscheiden, weil die Annahme der Willensfreiheit und die Zuschreibung von Verantwortung unausweichlich Teil der menschlichen Lebenspraxis ist. Julian Nida-Rümelin knüpft hieran unmittelbar an: „Wir als normale menschliche Wesen, eingebettet in soziale Zusammenhänge, können gar nicht anders, als Verantwortlichkeit und Freiheit in dem Umfang vorauszusetzen, wie es für die von uns allen geteilten moralischen Empfindungen und Einstellungen (Strawson spricht hier von reactive attitudes) erforderlich ist. Unsere lebensweltlichen interpersonalen Beziehungen lassen keinen Spielraum für theoretische Überzeugungen, die diese Einstellungen als unbegründet erscheinen lassen würden.“ (Verantwortung, Wikipedia).

 

 

Interessen

Die Befürchtung, dass nur noch naturwissenschaftliche Sprachen zugelassen werden, wird durch die zunehmende gesellschaftliche Relevanz von naturwissenschaftlichen Beschreibungen genährt. Dem steht aber die Befürchtung gegenüber, dass Wissenschaftler, welche die Existenz eines freien Willens verneinen, von religiöser Seite angefeindet werden. Aus Sicht der Problemlösungsinteressen haben die Freiheitsskeptiker nämlich schlechte Karten. Das Interesse der Gesellschaft, dass es eine Willensfreiheit und Verantwortung gibt, ist überwältigend:

-      Der Glaube an die Willensfreiheit stärkt das Selbstbewusstsein und den Glauben an die Beeinflussbarkeit der persönlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. Er verschafft offensichtlich einen evolutionären Vorteil und wirkt damit wie eine positive Rückkopplung.

-      Umgekehrt ist die Botschaft der Freiheitsskeptiker derart unangenehm, dass die Überbringer oft mit der Botschaft verwechselt werden. Sie werden zwar nicht auf dem Scheiterhaufen verbrannt wie gewisse Vertreter der Prädestination im Mittelalter, aber ihre Forschungsergebnisse stossen in manchen Kreisen auf wenig Sympathie.

 

Unter den Kompatibilisten sind diejenigen speziell zu vermerken, welche die Willensfreiheit in einer formalen Sprache beschreiben. John Searle weist darauf hin, dass theoretisch auch Roboter mit einem freien Willen konstruiert werden könnten. Dieses Argument scheint insbesondere Informatiker nicht abzuschrecken. Forscher im Bereich der künstlichen Intelligenz bevorzugen eine Sprachregelung, gemäss welcher sie (dereinst) Wesen erschaffen werden, welche über ein Ich-Bewusstsein und Willensfreiheit verfügen [Metzinger, 279-282].

 

Fazit: Bei der Deutung des Begriffes Willensfreiheit gibt es nicht nur einen Wettbewerb zwischen der Innen- und Aussenperspektive, sondern auch einen Wettbewerb zwischen Einzelwissenschaften. Während die Hirnforscher den Begriff Willensfreiheit durch eine naturgesetzliche Beschreibung der Hirnprozesse eliminieren, wird er bei den A.I.-Forschern unter Verwendung von Programmiersprachen wieder eingeführt. Lieber etwas zu viel freier Wille als zu wenig.

 

 

 

8. Schlussfolgerungen

 

 

Willensfreiheit

Libertarier sprechen nur dann von Willensfreiheit, wenn der Mensch Letzt-Urheber seiner Entscheidungen ist, d.h. die Kausalität der physikalischen Hirnprozesse durchbrechen kann. Sie glauben, dass es geistige (nicht-physikalische) Kräfte gibt, welche diesen Durchbruch leisten können. Die Mehrheit der heutigen Philosophen lehnt diese Position ab. Sie vertritt die Meinung, dass die menschlichen Entscheidungen vollständig von physikalischen Gesetzen kontrolliert werden. Es stellt sich dann die Frage: Kann ein von physikalischen Gesetzen bestimmter Wille frei sein? Die Meinungen gehen auseinander:

- Harte Deterministen, sehen keine Grundlage für die Existenz einer Willensfreiheit

- Kompatibilisten (auch weiche Deterministen genannt) postulieren, dass die Willensfreiheit mit den bekannten physikalischen Gesetzen kompatibel ist. Die kompatibilistische Willensfreiheit ist allerdings eingeschränkt durch Faktoren der Aussenwelt und Innenwelt:

 

 

Einschränkungen durch die Aussenwelt

In diesem Aufsatz geht es nicht um die bewussten und bekannten Fälle von politischer Freiheitsberaubung. Soweit soziale Strukturen reflektiert werden können, sind sie auch offen für eine gesellschaftliche Diskussion und für Widerstand. Es geht hier darum, dass die Willensfreiheit bereits durch die Verdrängung von Wünschen und Möglichkeiten eingeschränkt ist. Es gibt eine gesellschaftliche Produktion von Unbewusstem, welche der Kontrolle von Trieben und der Festigung von Machtverhältnissen dient.

 

Wenn Strukturen der Triebbewältigung dienen, dann haben sie oft eine Doppelfunktion: sie schränken die Freiheit in einem Bereich ein, aber vergrössern sie in einem anderen Bereich. Sie gleichen deshalb eher einem Kloster als einem Gefängnis. Das Kloster schränkt die Freiheit ein, aber es bietet auch Schutz vor den Gefahren der Aussenwelt und erlaubt das ungestörte Meditieren. So wie der Pianist künstlerische Freiheit gewinnt, indem er die Tastentechnik im Unbewussten verankert, so gewinnt eine Kultur Freiheit, indem sie gewisse Aggressions-Hemmungen im Unterbewussten verankert.

 

 

Einschränkungen durch die Innenwelt

Die langfristig etablierten, sich nur langsam im Laufe des Lebens ändernden Einflusszonen der psychischen Instanzen definieren das Mass der inneren Freiheit. Diese Einflusszonen können als grundlegende Einschränkung der individuellen Freiheit betrachtet werden aber auch als eine spezifische Anpassung an die Umwelt, in welcher sich Individualität und damit ein Stück Freiheit ausdrückt. Am meisten zum Freiheitsskeptizismus beigetragen haben diejenigen Hirnforscher welche behaupten, dass Bewusstsein nur ein Epiphänomen ist.

 

 

Verantwortung

Man kann nur für etwas verantwortlich gemacht werden, worüber man frei entscheiden kann:

- Die harten Deterministen schliessen Willensfreiheit und Verantwortung aus. Die Mehrheit der heutigen Philosophen lehnt diese Position ab.

- Libertarier und Kompatibilisten bejahen sowohl die Willensfreiheit als auch die Verantwortung. Für sie besteht das Hauptproblem darin, das moralische Gewicht der unbewussten Motive richtig einzuschätzen.

 

 

 

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Anhang: Konservative und Dissipative Strukturen

 

Das Erscheinungsbild der Wirklichkeit ist stark strukturiert.

-      Konservative Kraftwirkungen frieren den Zufall ein und schaffen beständige Formen und Muster.

-      Dynamische Ordnungszustände entstehen aus der zeitlichen Synchronisation physikalischer und chemischer Prozesse unter ständiger Dissipation von Energie.

[Hampe 2007, 126].

 

 

Konservative Strukturen

Materielle räumliche Strukturen sind immer auf statischen Kraftwirkungen (Anziehung und Abstossung) zwischen den Teilen zurückzuführen. Gestalt ist eine Konsequenz aus Wechselwirkungen [Eigen, 89]

Beispiele:

-      Verteilung der Atome im Molekül

-      Räumliche Struktur eines Proteins, z.B. Protein-Molekül

-      Symmetrische Anordnung der Bausteine im Kristallgitter

-      Viren (als Materiepartikel kann das Virus wie ein mineralischer Stoff in den Kristallverband überführt werden, im Milieu der lebenden Zelle hingegen benimmt es sich wie ein Lebewesen)

-      Muster eines Sternsystems

Konservative Strukturen sind zumeist Gleichgewichtsstrukturen, die durch ein absolutes Minimum der freien Energie charakterisiert sind [Eigen, 92-93].

 

 

Dissipative Strukturen

Für die Gestaltbildung in der Natur sind die dissipativen Strukturen von ebenso grosser Bedeutung wie die konservativen. Sie unterscheiden sich von den konservativen Strukturen wie folgt:

-      Der kooperativen Kraftwirkung im konservativen Muster entspricht die autokatalytische Reaktivität im dissipativen Modell.

-      Im dissipativen Modell entwickelt sich ein stationäres Muster, ohne dass die Materieteilchen im Raum fixiert sind

-      Die dissipative Form ist nicht allein durch die Wechselwirkungen bestimmt, sondern auch durch die Randbedingungen des Systems

-      Die Aufrechterhaltung der Strukturen verlangt eine ständige Dissipation von Energie, was mit einer stationären Erzeugung von Entropie gleichbedeutend ist. Das System besitzt also einen Metabolismus, d.h. stofflich gebundene Energie wird fortwährend umgesetzt.

-      Konservative Strukturen sind stabiler, reversibler und besser kombinierbar, weil sie nicht von Randbedingungen abhängen.

Beispiele

-      Physik: Wabenförmige Zellstrukturen in einer von unten erhitzten Flüssigkeit (Bénard-Effekt)

-      Anorganische Chemie: Chemische Reaktionen, die eine zeitliche Oszillation zeigen (Zhaboutinsky-Reaktion)

-      Biochemie: Beim Zuckerabbau entstehen periodische Muster.

-      Biologie: Schleimpilze treten wie von unsichtbaren Kräften getrieben zu einem Plasmodium zusammen, das sich wie ein Organismus verhält

[Eigen, 116-120]

 

Dissipative Strukturen sind insofern ein Mittelding zwischen Chaos und Ordnung, als sie durch zufällige Änderungen der Randbedingungen entstehen oder wieder verschwinden können. Im oben erwähnten Beispiel der Bénard-Zellen sieht das z.B. wie folgt aus:

Kleinste Störungen reichen aus (beispielsweise das zufallsbedingte gleichzeitige Aufsteigen einiger Flüssigkeitsmoleküle an bestimmten Stellen), um sich zu makroskopischen Bewegungen aufzuschaukeln, die schließlich die ganze Flüssigkeitsschicht erfassen und mit Konvektionszellen ausfüllen. Wie auf ein Kommando schält sich aus dem mikroskopischen Chaos des thermodynamischen Gleichgewichts ein kohärentes, kollektives Verhalten heraus. Die vorher individuell und unabhängig voneinander agierenden Flüssigkeitsteilchen machen plötzlich gemeinsame Sache. Solange sich an den äußeren Bedingungen nichts ändert (konstanter Energiestrom), bleibt dieses zufällig zustande gekommene           Zellenmuster erhalten. Der Zufall wird gewissermaßen konserviert und bestimmt die individuelle Gestalt der dissipativen Struktur. Der Zufall kann daher als das kreative, von vornherein nicht bestimmbare und nicht vorhersagbare Element der Strukturbildung angesehen werden (Von der Dissipation zur dissipativen Struktur, H.J.Schlichting)

Mit dem Begriff Zufall ist hier der unechte Zufall, d.h. das deterministische Chaos gemeint (Kap.4.3).

 

 

Lebewesen

Die Gestaltbildung in Lebewesen ist nur aus dem Zusammenwirken des konservativen und dissipativen Prinzips zu verstehen:

-      In der Morphogenese sorgen die dissipativen Strukturen für die räumliche Organisation der konservativen (vom genetischen Programm der Zelle definierten) Strukturelemente

-      Als Erregungsmuster im Netzwerk der Nervenzellen überlagern die dissipativen Strukturen die Teilinformationen und stellen so das materielle Korrelat zu „Gestalt“ dar.

Die zur Ausbildung der dissipativen Strukturen notwendigen Wechselbeziehungen beruhen auf konservativen Kraftwirkungen. Auch die permanente räumliche Fixierung von dissipativen Mustern bedarf der stabilisierenden konservativen Kräfte [Eigen, 118]

Die Ordnung des Lebens baut auf dem konservativen wie auch dem dissipativen Prinzip auf. Die Gestalt der Lebewesen, die Gestalthaftigkeit der Ideen, sie beide haben ihren Ursprung im Wechselspiel von Zufall und Gesetz [Hampe 2007, 126].

 

Gesetze sind für Prigogine lokale, singuläre, historische Zusammenhänge, die aus Zufallsentwicklungen entstehen und durch sie wieder verschwinden werden [Hampe 2007, 123].

Wenn Gesetze nicht ewig dauern, dann können auch die von ihnen geschaffenen Strukturen nicht ewig dauern.

 

Die Natur als aleatorischer Prozess, als Spiel, ist weder eine von Gott geplante Weltmaschine noch ein Weltorganismus und besitzt keine entsprechende Form der Ganzheit. Sie wird zu einer unendlichen Geschichte. Denn das Spiel ist nicht durch Spielregeln bestimmt, sondern aus dem Zufall entwickeln sich immer wieder neue Regeln und durch ihn gehen alte Regeln unter. Dieser Prozess hat kein Ende und keine Tendenz zur Vollkommenheit [Hampe 2007, 127].