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Michael Hampe

 

Tunguska

 

Buchbesprechung

 

B.Contestabile    Erste Version 2011   Letzte Version 2023

 

 

 

 

Inhalt

 

Vorbemerkung

 

1.   Struktur der Erzählung

2.   Deutung und Interesse

3.   Sinnsuche und Transzendenz

4.   Natur und Kultur

5.   Geteilte Wirklichkeiten

6.   Einmaligkeit

 

Zitierte Literatur

Rezensionen

Video

 

 

 

Vorbemerkung

 

Die Erzählung Tunguska kann unter verschiedenen Aspekten gelesen werden. Der vorliegende Kommentar beschränkt sich auf die Beziehung zwischen Naturphilosophie und Ethik.

Für eine Abhandlung zum Naturbegriff siehe „Die Natur gibt es nicht“ (NZZ Online).

 

 

 

 

1. Struktur der Erzählung

 

In einer Traumwelt begegnen sich

-      Steven Weinberg, alias Tscherenkov

-      Alfred North Whitehead, alias Blackfoot

-      Adolf Portmann, alias Bordmann

-      Paul Feyerabend, alias Feierabent

 

In dieser fiktiven Begegnung werden verschiedene Deutungen des Tunguska-Ereignisses kontrovers diskutiert. Im Laufe der Diskussion schweifen die Teilnehmer immer wieder ab vom Thema und streiten sich über die ethischen Konsequenzen ihrer unterschiedlichen Weltbilder. Wie sich am Schluss der Erzählung herausstellt, wird das Treffen geträumt von Paul Feyerabend, welcher am 11.Februar 1994 an einer Hirnoperation verstarb. Aber auch das ist natürlich nur eine Metapher. Letztlich handelt es sich um eine Konstruktion des Autors Michael Hampe, welcher den Traum aus verschiedenen Aussagen der erwähnten Wissenschaftler zusammensetzt [Hampe, 310].

 

 

 

2. Deutung und Interesse

 

Warum gibt es verschiedene Deutungen des Tunguska-Ereignisses?

 

Ein erfolgreicher Gelehrter tendiert dazu, die Fragen welche ihm gestellt werden mit denjenigen Methoden zu beantworten, welche er am besten kennt und denen er seinen Erfolg verdankt. Die folgende Tabelle zeigt stichwortartig die Ausrichtung der Tunguska-Akteure:

 

 

 

 

Whitehead

Mathematiker

 

Veränderung der Innenwelt

 

Orientierung an einer tiefgründigeren

Wirklichkeit

 

 

Weinberg

Physiker

 

Veränderung der Aussenwelt

 

Kontrolle durch Abstraktion und technologischen Fortschritt

 

 

Portmann

Biologe

 

Anpassung an die (unkontrollierbare)

Aussenwelt

 

Respekt vor der Natur

 

 

Feierabend

Wissenschaftstheoretiker

 

Anpassung an die (unkontrollierbare) Innenwelt

 

Zurück zum Ursprünglichen, weg von der Abstraktion

 

 

 

 

Je mehr Fragen ein Gelehrter beantworten kann, umso grösser wird sein Einflussbereich. Umkehrt erzeugt jedes nicht erklärbare Naturphänomen eine Verunsicherung. Das Interesse, die gewohnten Methoden zu bestätigen, führt oft zu einer eingeschränkten oder verzerrten Wahrnehmung oder zu einer Überdehnung der Fachkompetenz. Im Falle von Tunguska sucht jeder der Akteure eine Erklärung, welche sein Weltbild bestätigt. Im Detail sieht das so aus:

-      Weinberg deutet das Tunguska-Ereignis als Aufprall eines zerbrochenen Meteoriten, womit die überragende Erklärungsmacht der Physik bestätigt wird.

-      Whitehead postuliert, dass es sich um ein einmaliges Ereignis handelte, welches durch eine Verkettung von Zufällen zustande kam. Damit wird die Bedeutung des Zufalls und der Einmaligkeit (welche in Whiteheads Weltbild eine grundlegende Rolle spielen) aufgewertet.

-      Portmann sieht in der Natur eine Harmonie, welche von der menschlichen Technologie zerstört wird. Er deutet das Tunguska-Ereignis entsprechend als technisches „Teufelswerk“ eines Menschen.

-      Feyerabend betont, dass Wissenschaft immer auch ein soziales Projekt ist, in welchem Mehrheiten über die „Wahrheit“ bestimmen. Er postuliert, dass wir nie wissen werden, was wirklich passiert ist, weil sich verspätete Untersuchungen und individuelle Erlebnisberichte zu einer unüberprüfbaren Fabel verdichten.

 

Feyerabend hat noch eine zweite Funktion. Als Träumender sieht er, dass jeder der Akteure an der obersten Stelle der Deutungshierarchie stehen möchte. Wissenschaftler und Philosophen versuchen oft ihre Gesprächspartner mit einer Fachsprache zu beeindrucken und sie sozusagen begrifflich zu unterwerfen. Um diesem Machtanspruch zu entgehen, muss man offen bleiben für konkurrierende Denksysteme und gegebenenfalls eine eigene Sprache und Methode durchsetzen. Da Feyerabend ein glühender Verfechter des Methodenpluralismus war, bestätigt er auch in dieser zweiten Rolle sein Weltbild.

 

 

 

3. Sinnsuche und Transzendenz

 

Trägt die Naturphilosophie etwas bei zur Sinnstiftung?

 

Naturphilosophen sind oft Sinnsucher. Wie die Akteure von Tunguska demonstrieren, führt diese Suche aber zu ganz unterschiedlichen Resultaten:

 

 

Whitehead

 

Teilhabe am werdenden Gott

 

Weinberg

 

Individueller Sinn

 

Portmann

 

Sinn durch Verantwortung

 

Feierabend

 

Sinn-lichkeit

 

 

Warum sind die Resultate so unterschiedlich, obwohl alle Akteure vernünftig (wissenschaftlich) vorgehen und es nur eine Natur gibt? Die Antwort liegt im Methodenpluralismus:

-      Es werden unterschiedliche Teilbereiche der Natur erforscht, was nur mit unterschiedlichen Methoden möglich ist.

-      Umgekehrt führen abweichende Methoden oft zur Entdeckung von neuen Aspekten der Natur.

Die Natur wird sozusagen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet.

 

Die Wahl der Methoden wird hauptsächlich beeinflusst durch die unterschiedlichen Talente und Sozialisierungen der Akteure.

Dazu ein paar Auszüge aus ihren Biographien:

 

 

Weinberg

Weinbergs Vater förderte Stevens Interesse an der Wissenschaft. Stevens Talent war so offensichtlich, dass er sich bereits im Alter von 15 Jahren der theoretischen Physik zuwandte. Die Abwendung von der jüdischen Tradition und die Hinwendung zum Atheismus ist das Resultat seiner Auseinandersetzung mit der Theodizee. Viele von Stevens Verwandten kamen im Holocaust ums Leben. Sein Vater erkrankte an Alzheimer, seine Mutter starb qualvoll an Krebs (Steven Weinberg, schulfach-ethik.de).

„Je begreiflicher uns das Universum wird, umso sinnloser erscheint es auch“ (aus dem Buch „Die ersten 3 Minuten“) ….
Die Weltformel wird mit uns Menschen nichts zu tun haben. Sie wird uns die Welt kalt und unpersönlich erscheinen lassen. Wir können uns selbst einen Sinn geben – in der Natur werden wir ihn nicht finden (Naturwissenschaft und Sinnsuche in www.philosophie-forum-leben.de.vu)

 

Manche Leute haben Ansichten über Gott, die so allgemein und so dehnbar sind, dass sie unweigerlich auf Gott stossen müssen, gleichgültig, wo sie nach ihm suchen. Da bekommt man etwa zu hören: „Gott ist das Höchste“ oder „Gott ist unser besseres Wesen“ oder „Gott ist das Universum“. Natürlich können wir dem Wort Gott wie jedem anderen Wort jede beliebige Bedeutung unterlegen. Wenn Sie behaupten „Gott ist Energie“, dann können Sie Gott in einem Stück Kohle finden (www.freigeisterchen.de/steven_weinberg).

Einer dieser Leute, die unweigerlich auf Gott stossen mussten, war Alfred North Whitehead:

 

 

Whitehead

Whiteheads Vater, ein anglikanischer Pfarrer, unterrichtete ihn bis zum Alter von 14 Jahren zu Hause, da Alfreds Gesundheitszustand von den Eltern als zu schwach für den Besuch einer öffentlichen Schule und der damit verbundenen körperlichen Aktivität eingeschätzt wurde (…). Nach dem anschliessenden Eintritt in eine Schule zeigte sich schon bald sein herausragendes mathematisches Talent (…). Bekannt wurde Alfred Whitehead durch das Standardwerk „Principia Mathematica“ über Logik, das er zusammen mit seinem langjährigen Schüler und Freund Bertrand Russell veröffentlichte. Es stellte den Versuch dar, im Sinne des logizistischen Programmes alle wahren mathematischen Aussagen und Beweise auf eine symbolische Logik zurückzuführen.

 

Obwohl Alfred North Whitehead durch die Familie und Erziehung in der anglikanischen Kirche beheimatet war, begann er 1890 eine mehrjährige Auseinandersetzung mit den Lehren der römisch-katholischen Kirche (…). Diese Zeit endete nach einer Dekade mit der Feststellung Whiteheads, dass er nun eine agnostische Haltung gegenüber den Religionen eingenommen habe, nach eigenen Worten beeinflusst durch den raschen Fortschritt in der Physik und die damit verbundene Abkehr vom Newtonschen Weltbild (Alfred North Whitehead, Wikipedia).

 

Schliesslich entwarf Whitehead jedoch eine eigene Form der Religiosität, welche dem Panpsychismus nahe steht:

"Als uranfänglich betrachtet, ist Gott die unbegrenzte Realisierung des absoluten Reichtums an Potentialitäten. Unter diesem Aspekt ist er nicht vor, sondern mit aller Schöpfung." (…) Er wird als ein Schöpfergott definiert, der "dauernd schafft" – aber eben auch "sich selbst" (…). Es ist genauso wahr, zu sagen, dass Gott die Welt erschafft, wie zu behaupten, dass die Welt Gott erschafft." (…) Whitehead unterstreicht die Affinität seiner Metaphysik zur Tradition der altindischen und altchinesischen Philosophie (http://www.ludwig-herdt.de/diss/III.htm).

 

 

Portmann

Portmann, der aus dem Arbeiterstande kommt, zeichnet ein starkes Gefühl der Verantwortlichkeit aus (Adolf Portmann, Biografieskizzen)

Er propagierte eine Weltsicht, die das naturwissenschaftlich-mathematische Denken mit der Ebene von Musik, Dichtung und Religiosität verband. Seine biologisch-anthropologischen Erkenntnisse wurden von der philosophischen Anthropologie rezipiert. Politisch der sozialistischen Partei nahe stehend, engagierte sich Portmann aktiv in der Volksbildung (Portmann Adolf, Historisches Lexikon der Schweiz).

 

Als Aufklärer und Sozialdemokrat war Portmann davon überzeugt, dass das menschliche Schicksal nicht (nur) von einer höheren Macht gelenkt wird, sondern dass die Menschen aufgrund ihrer Sonderstellung in der Natur (Willensfreiheit) einen Teil der Verantwortung übernehmen können und müssen.

Portmann war fasziniert von der Vielfalt der Tierwelt. Die Aufmerksamkeit für andere Lebewesen fördert die Empathie. Wenn die Beobachtung in einer unbedrohten Situation erfolgt (wie bei einem Naturforscher) dann entsteht aus der Empathie eine Sympathie. Der Naturforscher wird zum Naturschützer. Aber Portmann erkannte auch früh, dass Naturschutz immer mehr zu Menschenschutz wird.

 

 

Feyerabend

Feyerabend war ein begnadeter Unterhalter, was mit seiner Emotionalität und seinem Hang zur Selbstdarstellung zusammenhing. Das Auffallendste an Feyerabend aber war die Vielseitigkeit seiner Begabungen. Bereits zu seiner Schulzeit las er freiwillig Bücher über Mathematik, Physik und Astronomie und interessierte sich gleichzeitig für Musik und die Oper. Nach dem Militärdienst (in welchem er schwer verletzt wurde) studierte er zuerst Gesang und Theaterwissenschaft, dann Geschichte, Soziologie, Mathematik und Naturwissenschaften bevor er sich der Wissenschaftstheorie zuwandte [Hoyningen-Huene] [Tiefenthal].

 

Feyerabend wurde zunächst tief von Karl Poppers Denken geprägt. Später wandte er sich jedoch von Poppers kritischen Rationalismus ab und machte ihn zum Hauptfeind des eigenen wissenschaftstheoretischen Anarchismus (…).

 

Ein wesentlicher Grund für diese Abwendung war das politische Klima Berkeleys und der San Francisco Bay Area.

1964 machte die Free Speech Movement Berkeley zum linksrevolutionären Zentrum der USA, drei Jahre später war die Hippiebewegung im benachbarten San Francisco mit dem Summer of Love auf ihrem Höhepunkt angelangt. Feyerabend hat in seinen Schriften immer wieder betont, dass die Erfahrungen mit den politischen Bewegungen und der Multikulturalität der Bay Area seine philosophischen Gedanken stark geprägt haben (Paul Feyerabend, Wikipedia)

 

Im Gegensatz zu den oben erwähnten drei Philosophen war Feyerabend ein rastloser Mensch, der viermal heiratete und viel herumreiste. Er kam schliesslich zur Überzeugung, dass die ganze Beschäftigung mit Abstraktionen, Theorien und Rationalität fragwürdig ist. Der Sinn des Lebens muss etwas Anschauliches und Sinnliches sein, eine Lebensweise, die vielleicht noch bei gewissen nomadischen Kulturen zu finden ist, welche in Harmonie mit der Natur leben.

 

 

Transzendenz

Soweit erhält man den Eindruck, dass Whitehead aufgrund seiner Lebensgeschichte der Einzige ist, welcher einen transzendenten Sinn im Leben gefunden hat. Wir können uns aber fragen, wie sich die anderen gegen die Drohung der Vergänglichkeit schützen. Es zeigt sich dann, dass alle in ihrer Naturphilosophie eine Identifikation mit etwas Unvergänglichem gefunden haben:

 

 

 

Whitehead

 

Panpsychismus

 

 

Weinberg

 

Identifikation mit der „wahren“ Wirklichkeit

 

Portmann

 

Aus Materie wird Geist

 

 

Feierabend

 

Animismus

 

 

-      Weinberg identifiziert sich mit dem, was seiner Meinung nach „die Welt in ihrem Innersten zusammenhält“. Darin steckt in einem gewissen Masse der Traum von Allwissenheit und Allmacht. Die abstrakte Welt ist aber gleichzeitig auch ein Zufluchtsort, welche vor der Grausamkeit der Sinneswelt schützt [Hampe, 73-74].

-      Portmanns Vision ist mit derjenigen von Teilhard de Chardin verwandt (allerdings weniger religiös geprägt):

-      Teilhard sieht Leben und Kosmos in einer von Gott bewirkten kreativen Bewegung, die noch nicht an ihr Ziel gelangt ist. Kennzeichen dieser Bewegung ist die ständige Zunahme von Organisiertheit (Teilhard de Chardin, Wikipedia).

-      Für Feierabend schliesslich ist die Natur beseelt. Er könnte sich gut vorstellen in einer animistischen Kultur zu leben.

 

 

 

4. Natur und Kultur

 

Ist die Natur gut oder schlecht?

 

Die unterschiedlichen Interessen der Tunguska-Akteure führen zu unterschiedlichen Antworten auf diese Frage.

Die folgende Tabelle zeigt stichwortartig die entsprechende Ausrichtung:

 

 

 

Whitehead

 

Unergründlichkeit der Natur

Respekt vor jeder Seinsform

 

 

Weinberg

 

Fortschrittsglaube

Recht des Stärkeren

 

Portmann

 

Sonderstellung des Menschen Gerechtigkeit, Würde

 

 

Feierabend

 

Zurück zum Natürlichen Spontaneität, Anarchie

 

 

 

Daraus ergeben sich folgende ethische Diskurse:

-      Macht (Weinberg) gegen Gerechtigkeit (Portmann) [Hampe, 130-136]

-      Eigeninteresse (Weinberg) gegen Empathie (Whitehead) [Hampe, 117-123]

-      Negative Bewertung der Welt (Weinberg) gegen positive Bewertung (Portmann) [Hampe, 106-107]

-      Technologischer Fortschritt (Weinberg) gegen einfaches natürliches Leben (Feierabend) [Hampe, 187-188, 246]

 

Diese Diskurse zeigen, dass die Tunguska-Akteure gesellschaftlich engagierte Menschen sind. Moralisch-politische Stellungnahmen haben aber grundsätzlich einen normativen Anspruch und sind unwissenschaftlich. Die Naturwissenschaft versucht in erster Linie zu beschreiben und zu verstehen und nicht zu bewerten. Ein Physiker beschreibt die Natur im weitesten Sinne (d.h. belebte und unbelebte Natur, gefühlslose und empfindungsfähige Lebewesen) als komplexes abstraktes System und ein Historiker (wenn er nicht Romane verfasst) beschreibt die Weltgeschichte als eine Abfolge von Zuständen und Prozessen. Für den Wissenschaftler ist die Natur indifferent:

 

Die Natur ist weder gut noch schlecht. Sie handelt nicht moralisch, weil es sie gar nicht als erfahrbares Einzelwesen gibt [Hampe, 273].

 

Für die Menschen sind aber letztlich die Wirkungen der Natur massgebend, unabhängig davon, ob sie gesetzmässig oder zufällig (als Einzelereignisse), von einem Wesen gewollt oder indifferent ausgelöst werden. Die Menschen bewerten die Wirkungen so, wie wenn eine intentional handelnde Person oder Instanz dahinter stehen würde und sprechen z.B. von der „Mutter Natur“ oder von der „grausamen Natur“. Aus dieser Sicht ist die Natur nicht „gut oder schlecht“ sondern „sowohl gut als auch schlecht“. Den Versuchen, das Gute gegen das Schlechte Aufzurechnen steht Hampe kritisch gegenüber.

 

Kann der Charakter der Natur (im Sinne ihrer Wirkungen auf die Lebewesen) verbessert werden?

 

Bei der Beantwortung dieser Frage wird die Konstellation „Alle gegen Weinberg“, welche sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht, besonders deutlich. Weinberg steht für die (zurzeit) dominierende, komplexe, hoch technologisierte und durchrationalisierte Kultur (mit einer Tendenz zur Selbstzerstörung) die anderen Tunguska-Akteure stehen für einfachere und natürlichere Lebensweisen:

-      Weinberg vertritt im Gegensatz zu Portmann die Meinung, die Natur sei beherrschbar [Hampe, 98-102].

-      Weinberg weist auf die natürliche Hierarchie der Arten hin [Hampe, 117]. Whitehead bestreitet, dass es eine solche Hierarchie gibt und beschreibt Arten als gleichwertige Formen des Überlebens [Hampe 122-123].

-      Weinberg weist darauf hin, dass Zivilisation die Schwachen schützt, Feierabend verweist auf die zivilisatorische Grausamkeit gegenüber den Tieren [Hampe, 187-188]

Während Weinberg die positiven Seiten des technologischen Fortschritts betont und den Überlebenskampf in der Natur negativ bewertet, tendieren die anderen dazu die Tierwelt und die einfacheren Kulturen zu ästhetisieren, zu romantisieren oder das natürliche Leben „so wie es ist“ einfach zu akzeptieren. Bei Weinberg wird die negative Bewertung durch den Fortschrittsoptimismus teilweise wieder aufgehoben und von den Fortschrittsskeptikern entwickelt keiner eine Philosophie der Weltverneinung. Abgesehen von gewissen Bezügen zum Hinduismus (bei Whitehead) ist Tunguska deshalb charakteristisch für die westliche Naturphilosophie.

 

 

 

5. Geteilte Wirklichkeiten

 

Führt der Methodenpluralismus zu einem ethischen Relativismus?

 

Hier geht es darum getrennte Sichtweisen (geteilte Wirklichkeiten) wieder zusammenzuführen. Die seit Sokrates bestehende Trennung zwischen

-      Wissenschaft und Ethik

-      theoretischer und praktischer Philosophie

soll wieder aufgehoben werden [Hampe, 224-250]

 

Feyerabend leistete einen Beitrag zu dieser Zusammenführung. Er beschäftigte sich zunächst mit dem Methodenpluralismus in der Wissenschaft beschäftigt und übertrug dann seine Erkenntnisse auf die Ethik. Im Laufe seiner wissenschaftshistorischen Untersuchungen entdeckte er, dass (individuelle und gesellschaftliche) Interessen in der Wissenschaft eine grössere Rolle spielen, als bisher vermutet. Wissenschaft und Ethik werden durch Interessen zusammengeführt (oder auch getrennt).

 

 

Wissenschaft

Die Naturwissenschaft ist geprägt durch Beobachtungen, Experimente und Logik. Messungen und logische Schlussfolgerungen gehören zu den Erfahrungen, welche grundsätzlich jeder Mensch nachvollziehen kann. Dabei merkt man aber schnell, dass die Resultate von den Methoden (Regeln) abhängen:

 

Feyerabend versucht, in Against Method anhand vieler Beispiele zu zeigen, warum jede Regel begrenzt ist (…). [Sukopp, 129]

 

Aus der Tatsache, dass alle Regeln ihre Grenzen haben, könnte man schliessen, dass Regeln entbehrlich sind. Viele Leser von Feyerabends Schriften haben ihn deshalb für einen Vertreter des Relativismus gehalten.

 

Aber Feyerabend zeigt nicht nur, welche Methoden versagt haben, sondern auch, welche Methoden genutzt haben [Sukopp, 130]

 

Ich will Regeln und Maßstäbe weder eliminieren noch ihre Wertlosigkeit zeigen. Ganz im Gegenteil – ich will unser Regel-Inventar vermehren [Feyerabend 1970] zitiert von [Sukopp, 130]

Die Regeln werden auch nicht beliebig vermehrt, sondern einem Kontext zugeordnet und erhalten damit eine Gültigkeit unter gewissen Bedingungen.

 

Feyerabend schlägt in seinem Prüfungsmodell wissenschaftlicher Theorien vor, dass wir mehrere Theorien, die einander widersprechen und die mit dem empirischen Material übereinstimmen, testen. Wenn man Empirist ist und sich anschaut, wie Wissenschaftler vorgehen, dann könnte man sagen: Macht den empirischen Gehalt unserer Erkenntnisse möglichst groß. Um den empirischen Gehalt zu vergrößern, brauchen wir möglichst viele relevante Tatsachen und wir brauchen alternative Theorien, um die Tatsachen zu interpretieren. Da die Konsistenzbedingung Alternativen ausschaltet, sollten wir sie aufgeben [Sukopp, 134].

Gemäss Feyerabend müsste man also versuchen, die empirische Datenbasis des Tunguska-Ereignisses zu erweitern und – wenn das nicht möglich ist – widersprüchliche Interpretationen zulassen.

 

 

Ethik

In der Ethik sind universalistische Aussagen noch schwieriger zu finden als in der Naturwissenschaft. Ethik ist geprägt von emotionalen Erfahrungen. Einen gemeinsamen Nenner kann man nur finden auf der Grundlage von gemeinsamen emotionalen Erfahrungen oder Empathie. Grundlage des ethischen Universalismus ist deshalb eine bestimmte Art des Gespräches, in welchem die (möglicherweise stark abweichenden) Erfahrungen des anderen respektiert werden (Diskursethik). Der oben erwähnte Vorschlag Feyerabends, die Konsistenzbedingung in der Wissenschaft aufzugeben, entspricht in der Ethik dem Vorschlag, widersprüchliche Bewertungen zu erlauben. Das führt zu einer noch viel radikaleren Frage:

 

Ist das permanente Begründen und Erklären nicht bereits eine starke Einengung der möglichen Lebensformen?

 

Feyerabend, mit seiner Vorliebe für das Anschauliche, hat diese Frage wie folgt bejaht:

 

Gegen die Vernunft habe ich nichts, ebensowenig, wie gegen Schweinebraten. Aber ich möchte nicht ein Leben leben, in dem es tagaus tagein nichts anderes gibt als Schweinebraten [Sukopp, 129]

 

Es ist vernünftig (!), die Vernunft in Schranken zu weisen, aus einem ganz ähnlichen Grunde wie es vernünftig ist, Diktaturen zu vermeiden. Ist Feyerabend ein Relativist, weil er die Macht der Vernunft einschränkt? Für einen Relativisten sind Diktaturen, welche den Pluralismus unterdrücken und Demokratien, welche Menschenrechte respektieren, moralisch gleichwertig. Feyerabends Ideal ist aber ein buntes Gemisch aus Traditionen, wie es eben nur unter humanistischen Rahmenbedingungen möglich ist:

 

Eine Methode, die die Vielfalt fördert, ist auch als einzige mit einer humanistischen Auffassung vereinbar

[Feyerabend zitiert von Sukopp, 129]

 

In der Autobiographie, welche Feyerabend am Schluss seines Lebens schrieb, schwächte er einige seiner relativistischen Aussagen ab und bezeichnete sie als „Lehnsessel-Weisheiten“:

 

I have come to the conclusion that every culture is potentially all cultures and that special cultural features are changeable manifestations of a single human nature. This conclusion has important political consequences. It means that cultural peculiarities are not sacrosanct. There is no such thing as a “culturally authentic” suppression, or a “culturally authentic” murder. There is only suppression and murder, and both should be treated as such, with determination if necessary. [Feyerabend 1995, 151f]

 

Kultureller Relativismus und Wertepluralismus schliessen die Möglichkeit nicht aus, dass es einige Normen, Prinzipien und Werte gibt, die von allen gut informierten, rational denkenden Menschen akzeptiert werden.

 

Feyerabend war weniger ein Relativist als ein Pluralist [Sukopp, 129]

 

 

Synthese

Die Wissenschaft von der Natur (Reich der Ursachen) und die Moral der Gesellschaft (Reich der Gründe) werden durch das gemeinsame Interesse am Überleben zusammengeführt:

 

Eine reinliche Trennung von Natur und Gesellschaft, von einem Reich der Ursachen und einem Reich der Gründe kann es gar nicht geben. Die Gesellschaft der frei Gründe austauschenden Wesen und das Reich der notwendigen Ursachen greifen ineinander: am Ozonloch, im Regenwald, beim Kohlendioxyd in der Atmosphäre, in der Atombombe, dem Verbrennungsmotor und in der Fleischfabrik [Hampe, 233].

 

Neu ist, dass scheinbar harmlose Aktivitäten – wie Benzin tanken oder Land roden – eine moralische Dimension erhalten, weil sie indirekt unser Überleben gefährden. In der Populationsethik kommt diese neue Dimension am deutlichsten zum Ausdruck [Prigogine, 29]. Die nahe liegende (sich an der Bevölkerungsdichte orientierende) Intuition, dass zusätzliche Menschen in Australien willkommen sind und in Indien nicht, ist lokal richtig, aber global falsch, weil ein Australier pro Kopf zehnmal mehr Primärenergie verbraucht als ein Inder (siehe Primärenergieverbrauch). Die wirtschaftliche und technische Globalisierung erfordert einen globalen ethischen Diskurs.

 

Im Lichte der geschichtlichen Erfahrung wurde von ökologischen Denkern des Industriezeitalters wie Garret Hardin die These von Malthus neu formuliert (…) Menschen sind nicht in der Lage, den kollektiven Interessen Vorrang vor ihren privaten/persönlichen Interessen zu geben. Die Ressourcen werden ständig bedroht durch Verhaltensweisen, die auf der individuellen, nicht aggregierten Ebene logisch sind [Mayer].

 

 

Nachbemerkung

Die Aussage, dass seit Sokrates (469-399 v.Chr.) eine Trennung zwischen der Wissenschaft und Ethik besteht, ist fragwürdig. Sokrates war zumindest in seiner Weltanschauung und seiner Denkweise von den Naturwissenschaften beeinflusst. Er glaubte, dass es universelle Wahrheiten gibt (ähnlich wie Naturgesetze), welche die Grundlage für moralische Entscheidungen bilden. Diese Wahrheiten sollten nicht durch göttliche Offenbarungen gefunden werden, sondern durch kritisch-rationales Denken. Auch in der Zeit nach Sokrates ist eine Trennung von Wissenschaft und Ethik unplausibel. Hier einige Beispiele:

-      Bei Platon (428-348 v.Chr.), Aristoteles (384-322 v.Chr.) und den Philosophen der Stoa (300 v.Chr. bis 200 n.Chr.) gab es eine enge Verbindung zwischen Naturphilosophie und Ethik.

-      Viele Philosophen der Spätantike und des Mittelalters waren von Platon und Aristoteles beeinflusst. Dazu gehören u.a. Boethius (480-524), Avicenna (980-1037) und Thomas von Aquin (1225-1274).

-      Bei Spinoza (1632-1677) waren theoretische und praktische Philosophie untrennbar verbunden.

-      Die Moralkritik von Nietzsche (1844-1900) wurde von der Evolutionstheorie beeinflusst.

-      Die ethische Theorie von Marx (1818-1883) war von den Wirtschaftswissenschaften geprägt.

Eine Trennung zwischen Wissenschaft und Ethik findet man im 20.Jahrhundert bei den logischen Empiristen und bei George Edward Moores Konzept des "naturalistischen Fehlschlusses":

Ein bekanntes Beispiel ist die Herleitung eines „Rechts des Stärkeren“ aus der Beobachtung, dass in der Natur der Stärkere überlebe, in der Überzeugung, dass dieses Natürliche gut sei (Naturalistischer Fehlschluss, Wikipedia).

Für Informationen zum aktuellen Status der theoretischen und praktischen Philosophie siehe Die Lehren der Philosophie.

 

 

 

6. Einmaligkeit

 

Am Schluss von Tunguska stellt Hampe eine Verbindung her zu seinem 2009 erschienenen Buch Das vollkommene Leben:

 

Leser des Vollkommenen Lebens werden bemerken, dass hier (im Tunguska-Ereignis) eine Parallelität zur Betonung der Einmaligkeit und Unvergleichbarkeit menschlicher Lebensläufe bei der Auseinandersetzung mit der Frage nach der Möglichkeit des Glücks besteht [Hampe, 292].

 

Die Tunguska-Akteure sind in gewisser Hinsicht Wiedergänger der Polyphonie-Akteure. Das untenstehende Diagramm zeigt diese Zuordnung:

 

 

 

-      Weinberger ist nicht nur ein Namensvetter von Weinberg, sondern teilt auch seine mathematisch-physikalische Denkweise.

-      Whitehead, welcher die Beziehung seiner Metaphysik zur fernöstlichen Philosophie betont, ist seelenverwandt mit der meditierenden Dakini.

-      Portmann, welcher den Menschen als ewig Werdenden sieht, hat eine Affinität zu Williamson, welcher die Notwendigkeit der ständigen Anpassung betont.

-      Der Anarchist Feyerabend würde sich wahrscheinlich gut mit dem Psychoanalytiker Martens’ verstehen

-      Mit zunehmendem Alter nähert sich Feyerabend immer mehr der einfachen, beschaulichen Lebensweise von Kolk.

 

Das Vollkommene Leben erhebt keinen Anspruch darauf, allgemeingültige Prinzipien der Glückssuche zu kennen (wie z.B. die Glücks-Ratgeber). In Analogie dazu erhebt das hier besprochene Buch keinen Anspruch darauf, eine allgemeingültige Erklärung des Tunguska-Ereignisses zu kennen. Komplexe Phänomene – wie das Wetter oder das Verhalten eines Menschen – kann man nicht genau vorhersagen, selbst wenn die zugrunde liegenden Kausalketten determiniert sind. Die Entwicklungsmöglichkeiten sind so unvorstellbar gross, dass es immer wieder Fälle gibt, die uns wie ein Wunder oder wie eine unfassbare Katastrophe erscheinen.

 

 

 

Zitierte Literatur

 

1.     Cooper Christopher (1997), On Feyerabend, in Free Life No.27, London

2.     Feyerabend Paul K. (1970): Against Method. Outline of an anarchistic theory of knowledge (deutsch: Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie), Frankfurt am Main: Suhrkamp.

3.     Feyerabend Paul (1995), Killing Time, The Autobiography of Paul Feyerabend, University of Chicago Press

4.     Hampe Michael (2011), Tunguska, Hanser Verlag, München

5.     Hoyningen-Huene Paul (1995), Paul K.Feyerabend, Universität Konstanz

6.     Mayer Lothar (1999), Ausstieg aus dem Crash, Verlag Publik-Forum

7.     Prigogine Ilya, Stengers Isabelle (1990), Dialog mit der Natur, Piper, München

8.     Sukopp Thomas (2007), Anything Goes?, Aufklärung und Kritik 1, www.gkpn.de/sukopp_feyerabend.pdf

9.     Tiefenthal Gerrit (2024), Enttäuschter Liebhaber der Wissenschaft, NZZ, 13.Januar, Seite 36

 

 

 

Rezensionen

 

1.     Nürnberger Zeitung, 18.8.2011

2.     Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.10.2011, Seite L 35

3.     Neue Zürcher Zeitung, 8.10.2011, Sonderbeilage Neue Sachbücher, S.16

4.     Berliner Zeitung, Buchmesse, 11.10.2011

5.     NZZ am Sonntag, 30.10.2011, Die Natur existiert nicht, S.22

6.     Zeit Online, Quelle Die Zeit, Nr.48, 24.11.2011, Feuilleton Literatur, S.67

 

 

 

Video

 

Doku Hitec (2014), TV-Wissenschaftssendung auf 3sat, Was geschah in Tunguska? (https://www.youtube.com)